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11.02.2021

Breiter Konsens für Cochlea-Implantate

Im Gespräch mit Dr. Harald Seidler über den ersten internationalen Consensus zur Versorgung mit Cochlea-Implantaten (CI) bei Erwachsenen

Es soll fortan der weltweite Maßstab für die CI-Versorgung bei Erwachsenen sein: das Konsenspapier, das das Consumer and Professional Advocacy Committee (CAPAC) mitgestaltet hat und aktuell vorstellt. Diese internationale Empfehlung, die Mindest-Anforderungen beschreibt, ist das Ergebnis eines langwierigen Arbeitsprozesses, an dem namhafte Repräsentanten aus HNO-Medizin und anderen Bereichen der CI-Versorgung sowie der Selbsthilfe mitwirkten – unter ihnen auch Dr. Harald Seidler. Der Chefarzt der Fachklinik für HNO-Heilkunde der MediClin Bosenberg Kliniken in St. Wendel, der zudem viele Jahre Präsident des Deutschen Schwerhörigenbundes (DSB) war, ist selbst seit frühester Kindheit schwerhörig. Harald Seidler nutzt seit 55 Jahren Hörgeräte, seit 13 Jahren ist er auf dem linken Ohr mit einem CI versorgt. Um mehr über die Arbeit des CAPAC sowie über den neuen Konsens zu erfahren, trafen wir Dr. Seidler zum Interview.

Redaktion: Herr Dr. Seidler, als Co-Chair der CAPAC waren Sie maßgeblich an der Erarbeitung des jetzt vorgestellten Konsenspapiers beteiligt. Sie konnten insbesondere zahlreiche Erfahrungen einbringen, die Sie über viele Jahre in nationalen und internationalen Organisationen der Selbsthilfe gesammelt haben. Was genau ist eigentlich die CAPAC? Und warum dieses Konsenspapier?

Dr. Seidler: Die Abkürzung CAPAC steht für Consumer and Professional Advocacy Committee. Zum einen gehören diesem Gremium international renommierte Fachleute an – Chefärzte bekannter CI-Kliniken, HNO-Chirurgen, Ingenieure, Logopäden; zum anderen gehören auch Vertreter der Patientenorganisationen dazu, Repräsentanten der International Federation of Hard of Hearing People (IFHOH), der amerikanischen und der deutschen Selbsthilfeverbände. Der Konsens, der mit dem jetzt vorgelegten Papier verabschiedet wurde, ist also sehr breit gefasst. Er schließt ganz unterschiedliche Perspektiven mit ein. Und genau das macht das Papier so wertvoll.

Ziel des CAPAC ist es nämlich, erstmals überhaupt Empfehlungen für die Versorgung mit Cochlea-Implantaten zu geben, die weltweit Gültigkeit haben. Es wurde gemeinsam formuliert, für wen eine CI-Versorgung sinnvoll ist.

Bei uns in Deutschland, in Europa, Amerika oder Australien ist das Cochlea-Implantat natürlich schon heute sehr bekannt und etabliert. Aber in vielen anderen Ländern ist das noch längst nicht der Fall. Dort haben hochgradig hörgeschädigte oder ertaubte Menschen noch nicht die Möglichkeit, eine CI-Versorgung zu erhalten. Das Consensus-Papier ist eine ganz wichtige Basis, um hier weiterzukommen. Es soll insbesondere den Ländern Hilfestellung bieten, in denen Cochlea-Implantationen derzeit noch nicht bzw. kaum möglich sind. Es soll in politische, in gesundheitliche und gesellschaftliche Bereiche hineinwirken.  Und es soll befördern, dass diese wunderbare Behandlungsmethode irgendwann allen Patienten zur Verfügung steht, die von ihr profitieren können.

Redaktion: Die Erarbeitung des Papiers erstreckte sich über lange Zeit. Was war denn Ihre Motivation, um an diesem Prozess mitzuwirken?

Dr. Seidler: Ich war begeistert davon, welche große Chance sich durch das CAPAC ergeben kann. – Ein Jahr zuvor hatte ich bereits intensiv an der deutschen CI-Leitlinie mitgewirkt. Aber in diesem internationalen Gremium diskutierten nun die wichtigsten Repräsentanten der weltweiten CI-Versorgung, die Chefärzte, die Patientenvertreter… – Sie alle waren bereit, sich zusammenzusetzen. Und sie wollten nicht nur ein gemeinsames Papier erarbeiten, sie wollten es auch konsensieren. Das heißt, sie wollten sich soweit verständigen, dass mindestens 75 Prozent dem Ergebnis der Verständigung zustimmen. Mich hat das von Anfang an fasziniert.

Es ging ja nicht nur darum, gemeinsam festzustellen, dass das CI eine großartige Möglichkeit ist. Wir brauchen auch klar beschriebene Standards, die bislang noch nicht oder nur teilweise vorhanden sind. Gerade in einem Bereich, der sich in vielen Ländern überhaupt erst neu entwickelt, ist es sehr wichtig, von vornherein Qualitätsstandards zu benennen. Allen Teilnehmern am Prozess von Versorgung und Nachsorge – also Ärzten, Audiologen, Hörakustikern usw. – bieten solche Standards wertvolle Orientierung. Es wird festgelegt, wann eine Indikation für ein CI besteht. Das ermöglicht diesen Beteiligten auch, entsprechend beraten und einwirken zu können.

Redaktion: Wer wird denn von diesem Konsens profitieren?

Dr. Seidler: Es werden alle profitieren, deren Anliegen eine qualitativ gute Versorgung mit Cochlea-Implantaten ist. In erster Linie sind das natürlich die Patienten. Sie erhalten nun Sicherheit bezüglich der Indikation und bezüglich der Möglichkeiten einer Versorgung. Aber auch die Anbieter von Leistungen der CI-Versorgung bekommen nun klare Guidelines an die Hand. Das hilft ihnen bei der Entscheidung: Sind Hörgeräte beim jeweiligen Patienten noch sinnvoll? Oder sollte dem Betroffenen ein Cochlea-Implantat empfohlen werden?

Es gibt Schätzungen – etwa von Stevens1, nach denen weltweit zirka 53 Millionen Hörgeschädigte vom Cochlea-Implantat profitieren können. Eine sehr große Zahl, die längst noch nicht erreicht ist. Die Zahl der CI-Träger weltweit wird derzeit auf etwa eine halbe Million geschätzt. Man sieht, welches riesige Potential noch erforderlich ist. Doch zuerst einmal muss vielen Leuten überhaupt bewusst gemacht werden, dass es diese Möglichkeit gibt. Das Consensus-Papier ist da genau der richtige Weg.

Wenn wir über die Konsequenzen sprechen, die das Papier nach sich zieht, muss man allerdings berücksichtigen, dass der Konsens noch kein Gesetz ist. Er ist zunächst eine Empfehlung für alle Beteiligten. Er soll dazu führen, dass Patienten gut informiert und beraten werden. Sie sollen im weiteren Verlauf einer Versorgung gut betreut und geführt werden. Und sie sollen auch nach der Implantation betreut werden. Es soll kontinuierlich eine qualitativ hochwertige Versorgung gewährleistet sein.

Redaktion: Welche Konsequenzen ergeben sich denn, wenn der Konsens zum Standard der Versorgungen gehört?

Dr. Seidler: Eine Konsequenz ist sicherlich, dass die CI-Versorgung als sehr komplexe Aufgabe verstanden wird, an deren Lösung sehr viele mitwirken. Es ist wichtig, dass die verschiedenen Berufsgruppen tatsächlich alle in den Prozess integriert werden. Sie müssen in den prozessualen Abläufen zusammengebracht werden. Und zwar so, dass im Sinne eines rehabilitativen Prozesses auch wirklich die Re-Integration der CI-Träger gelingt – im Berufsleben, im gesellschaftlichen Bereich usw. Das kann nur gelingen, wenn alle Berufe gut miteinander verzahnt sind.

Redaktion: Das Konsenspapier umfasst 20 Punkte in sieben Kategorien. Was sind denn die wichtigsten Punkte für schwerhörige Menschen?

Dr. Seidler: Das reicht von der Indikationsstellung bis zur Versorgung. Unter vielen Gesundheitsfachleuten haben wir in der Tat derzeit ein fehlendes bzw. nicht ausreichendes Bewusstsein hinsichtlich CI; und zwar in allen Fachgruppen. Das ist natürlich ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Steuerung in Richtung CI-Versorgung zu verbessern. Aktuell werden etwa noch viel zu vielen Patienten Power-Hörgeräte verordnet, obwohl für diese Patienten ein Cochlea-Implantat sinnvoll wäre. Wenn man hier weiterkommt, wenn die CI-Versorgung frühzeitig erfolgt, erhöht das natürlich die Lebensqualität dieser Menschen. Sie könnten ihre kommunikativen Möglichkeiten viel früher verbessern. Man könnte ihnen früher zu Re-Integration und Inklusion verhelfen.

Im Konsenspapier wird die CI-Versorgung in mehrere Phasen eingeteilt. Erste Phase ist die Indikationsstellung. Sie erfolgt in der Regel durch den HNO-Arzt oder die HNO-Klinik, oft auf Empfehlung des Hörakustikers. Als nächstes folgt die Operation in einer spezialisierten Klinik. Nach der OP folgt dann die postoperative bzw. rehabilitative Phase, die ein breit aufgestelltes Reha-Team erfordert – Ingenieure, Logopäden, Audiotherapeuten, Psychologen. Ein wichtiger Aspekt im Papier ist auch, dass diese Nachsorge deutlich aufgewertet wurde. Ein Cochlea-Implantat ist eben ein Computer. Es nutzt Programme zur Hörverarbeitung. Diese müssen betreut, aktualisiert und gepflegt werden. Deshalb braucht jeder CI-Patient eine lebenslange Nachsorge.

Heute wissen wir, dass eine unzureichende Hörversorgung nicht nur zu massiven Einschränkungen in der Lebensqualität führt. Sie kann auch die Ursache für ein Gefühl ständiger Erschöpfung und Überforderung sein, kann den sozialen Rückzug oder Depressionen nach sich ziehen. Deswegen ist es entscheidend, den gesamten Prozess der CI-Versorgung optimal zu gestalten. Nur so kann der Patient so früh wie möglich zu einem deutlich besseren Hörvermögen finden. Nur so wird er von besseren kommunikativen Kompetenzen profitieren. Und nur so kann er schnell re-integriert werden.

Redaktion: In welcher Beziehung steht das Konsenspapier eigentlich zur AWMF-Leitlinie – also der deutschen Leitlinie der Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften – oder auch zu anderen Guidelines? Was ist das Besondere?

Dr. Seidler: Das Besondere ist zum einen, dass 31 Repräsentanten aus aller Welt – aus den genannten Berufen und aus der Selbsthilfe – an der Erarbeitung beteiligt waren. Dass sich die Selbsthilfeverbände derart gut einbringen konnten, gab es nach meiner Kenntnis zuvor tatsächlich noch nie. Zum anderen ist besonders, dass es sich um einen weltweiten Standard handelt.

Hier in Deutschland haben wir schon seit etlichen Jahren eine AWMF-Leitlinie, außerdem das Weißbuch der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie (DGHNOKH). Beide sind im Vergleich zu dieser weltweiten Leitlinie in vielen Bereichen deutlich stringenter, sie stellen noch höhere Anforderungen an die Versorgungsqualität. Hintergrund ist, dass wir den deutschen Standard nicht einfach auf alle anderen Länder übertragen können. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Konsenspapier definiert als Minimum-Standard bei einer beidseitigen Ertaubung eine unilaterale CI-Versorgung. Hier in Deutschland wäre da schon jetzt die bilaterale Versorgung die Regel. Aber ein internationaler Consensus entsteht nur, wenn man Kompromisse macht. Ziel des Konsenspapiers ist ja vor allem, in Ländern, die noch keine Leitlinie oder auch noch gar keine CI-Versorgung haben, die erforderlichen Grundlagen und Standards zu schaffen. Damit die dortigen nationalen Organisationen eine Hilfe an die Hand bekommen, um an die Umsetzung gehen zu können.

Redaktion: Welche Rolle wird die CAPAC denn zukünftig spielen?

Dr. Seidler: Erst einmal muss man sagen, dass die beteiligten Vertreter der Selbsthilfe-Organisationen die Sichtweise und die Belange der CI-Patienten in das Konsenspapier einbringen konnten. Diese Zusammenarbeit in einem internationalen Netzwerk, die zum Großteil online und dann auch Face-to-Face vonstatten ging, lief sehr gut. Für mich war von Anfang an faszinierend, wie alle zusammenkamen und wie sich dieser Prozess dann entwickelte. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass wir auch die nun folgende Implementierung weiter begleiten werden, beispielsweise über die WHO in Genf. Wir werden dafür eintreten, dass die Standards auch dort aufgegriffen werden.

Redaktion: Und die Bedeutung des Consensus für Deutschland? Wo sehen Sie die?

Dr. Seidler: Für Deutschland ist es eine starke Unterstützung für den nationalen Leitlinien-Prozess. Der ist nun auch eingebunden in einen internationalen Consensus. Das gibt zum Beispiel auch einen Schub für die Einbindung der Selbsthilfeverbände. Dazu gehört, dass die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG) und der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) zukünftig noch mehr auf einem gemeinsamen Weg gehen wollen und gehen werden. Wir wollen den Consensus gemeinsam weiter vorantreiben, damit er von den politischen Entscheidern und den Kostenträgern berücksichtigt und umgesetzt wird. Das sind die nächsten Schritte.

Und dann hoffen wir auch, dass das Bewusstsein für die Möglichkeiten der Versorgung mit Cochlea-Implantaten zunimmt – bei allen Berufsgruppen, die mit Hörgeschädigten arbeiten. Es muss erreicht werden, dass hörgeschädigte Patienten zum rechten Zeitpunkt in die passende Einrichtung weitergeleitet werden. Das Papier soll etwa auch eine Grundlage für die Verständigung mit der Bundesinnung der Hörakustiker (biha) und mit der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie sein.

Redaktion: Ausgehend vom Konsenspapier sehen Sie also auch für Deutschland noch Verbesserungspotential?

Dr. Seidler: Die CI-Versorgung braucht auch in Deutschland noch qualitative Verbesserungen. Dazu gehört etwa die Indikationsstellung für eine CI-Versorgung. Es gibt Indikationen, die noch nicht überall bekannt sind. Denken wir etwa an einseitige Ertaubung, an Morbus-Menière-Patienten oder auch an solche mit Akustikusneurinom. Oder denken wir an Hörschädigungen im Grenzbereich. Der wird teilweise bei 75 dB eingestuft, ist aber eigentlich fließend. (Nach aktuellem Kenntnisstand2 besteht aus audiologischer Sicht eine CI- Indikation bereits ab einer Einsilberdiskrimination mit optimaler Hörgeräte-Versorgung von ≤60% bei 65 dB – Anm. d. Redaktion). Letztlich geht es darum, dass all jene Patienten, die ihren Hör-Alltag auch mit der besten Hörgeräteversorgung nicht bewältigen können, die etwa in Gruppengesprächen oder beim Telefonieren überfordert sind, von einem CI profitieren könnten.

Auch hierzulande haben wir die Möglichkeit, noch mehr Patienten zu einer besseren Lebensqualität zu verhelfen. Für Deutschland schätzt man, dass aktuell etwa noch 250.000 Menschen vom CI profitieren könnten. Ein anderer wichtiger Punkt ist wie gesagt die Nachsorge für Cochlea-Implantat-Patienten. Die muss auch in Deutschland noch deutlich verbessert werden. Jährliche Kontrolle bedeutet eben nicht nur, dass man Kontakte säubert. Da geht es vielmehr um eine Anpassung an die Aktualisierungen des jeweiligen CI-Programms und um ein begleitendes Hörtraining. Man kann nicht einfach ein Update machen und die Leute damit losschicken. Vielmehr müssen diese neuen Möglichkeiten beim Hören von einem geeigneten rehabilitativen Programm begleitet werden.

Redaktion: Herr Dr. Seidler, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch. Gutes Gelingen bei der weiteren Arbeit!

Das Gespräch mit Dr. Harald Seidler führte Martin Schaarschmidt.

1Stevens G, Flaxman S, Brunskill E, Mascarenhas M, Mathers CD, Finucane M, Global Burden of Disease Hearing Loss Expert Group. Global and regional hearing impairment prevalence: an analysis of 42 studies in 29 countries. Eur J Public Health 2013; 23: 146-52 http://dx.doi.org/10.1093/eurpub/ckr176 pmid: 22197756.
2Weißbuch Cochlea-Implantat(CI)-Versorgung, Empfehlungen zur Struktur, Organisation, Ausstattung, Qualifikation und Qualitätssicherung in der Versorgung von Patienten mit einem Cochlea-Implantat in der Bundesrepublik Deutschland, Erstellt durch das Präsidium der DGHNO Bonn, im April 2018: https://cdn.hno.org/media/PDF/ci-weissbuch-und-register-dghno-1-auflage-stand-04-2018.pdf

Foto: Schaarschmidt