16.02.2021
Smarte Hörgeräte für sehbehinderte Menschen
Interview mit Hansjörg Lienert von der Dräger & Lienert Informationsmanagement GbR über das Forschungsprojekt RaVis 3D
RaVis 3D, so lautete der Name eines Forschungsprojektes an der Ruhr-Universität Bochum. Dessen Ziel: die Entwicklung einer neuartigen Radartechnik, die sehbehinderten Menschen die Orientierung im Alltag erleichtern soll – und zwar auch durch die Verwendung neuester Hörgeräte-Technologie. Projektpartner waren neben der Universität auch die Sensorbasierte Neuronal Adaptive Prothetik (SNAP) GmbH aus Bochum sowie die Kampmann Hörsysteme GmbH aus Essen. Unterstützt wurde das Projekt u. a. von der GN Hearing, die schon in der Vergangenheit wiederholt an Projekten und Studien zu zukünftiger Hörgeräte-Vernetzung beteiligt war, sowie von der Dräger & Lienert Informationsmanagement GbR aus Marburg, einem Anbieter wegweisender Lösungen zur Integration sehbehinderter Menschen. Inhaber Hansjörg Lienert, selbst hochgradig sehbehindert, hat die neue Technologie im eigenen Alltag getestet.
Redaktion: Herr Lienert, wir sitzen uns hier in Ihrem Marburger Büro gegenüber. Ich sehe überall Schubläden, Bauteile, Technik und fühle mich ein bisschen an die Werkstatt von Daniel Düsentrieb erinnert. Aber inwieweit können Sie mich eigentlich sehen?
Hansjörg Lienert: Ich sehe noch, wenn Sie hier langlaufen. Aber Ihr Gesicht sehe ich nicht mehr. Auch auf meinem Monitor sehe ich fast nichts mehr. Da sehe ich noch, dass da eine Nachricht eingetroffen ist. Früher habe ich gut gesehen. Aber heute läuft bei mir im Grunde alles über Sprache und Gehör.
Mein Büro sieht übrigens immer so wild aus, weil ich ständig am Experimentieren bin – aktuell zum Beispiel mit meiner Tastatur. Sehende orientieren sich bei dem, was sie auf einem Bildschirm sehen wollen, ja ständig über die Augenbewegungen. Blinde Menschen müssen sich das immer über die Finger erschließen. Sie müssen die Finger dafür ständig bewegen, meist geht das über den Nummernblock. Da der rechts ist, geht alles über die rechte Hand. Ich habe mich gefragt, warum das so sein muss – und dann auch links einen Nummernblock angebaut.
Redaktion: Sie sind Mitinhaber von Dräger & Lienert. Was genau macht Ihr Unternehmen?
Hansjörg Lienert: Wir sind auf die Ausstattung von Arbeitsplätzen spezialisiert. Es geht darum, Menschen, die nicht sehen können, das Geldverdienen zu ermöglichen. Das können Geburtsblinde sein oder solche, die ihr Sehvermögen durch Unfall oder Krankheit verloren haben. Die Kundinnen und Kunden kommen aus allen Bereichen, in denen man mit PC sinnvoll arbeiten kann.
Wenn Menschen ihr Sehvermögen verloren haben, gehen sie üblicher Weise in das Berufsförderungswerk (BFW). Hier erlernen sie Grundtechniken, so genannte lebenspraktische Fertigkeiten. Sie lernen, mit einem Blindenstock umzugehen oder mit Braillezeile zu arbeiten. Dann kommt der Punkt, an dem sie zurück ins Berufsleben müssen. Im Idealfall können wir ihnen ermöglichen, genau auf den Arbeitsplatz zurückzukehren, den sie vor der Erblindung hatten.
Redaktion: Um was für Berufe geht es denn da?
Hansjörg Lienert: Nicht um Piloten; aber wir betreuen zum Beispiel eine Top-Architektin. Zu unseren Kunden gehören Physiker, Juristen, Lehrer, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Selbständige, viele Behörden, Gerichte, Banken, Industriebetriebe wie Bosch oder Audi. Wir nutzen Computer, Roboteranbindung, jede Art von Technologie, die einen Arbeitsplatz möglich macht. Wir sind vor allem wie ein Ingenieurbüro, haben Spaß daran, Technik zu kombinieren. Wir arbeiten herstellerunabhängig, vertreiben Standardprodukte wie Braillezeilen und Bildschirmlesegeräte, haben aber auch 15 eigene Produkte. Wir haben zum Beispiel ein patentiertes Ablagesystem entwickelt, das sich merkt, wo sie etwas abgelegt haben.
Unsere Leistungen bieten wir überall an, wo Deutsch oder Englisch gesprochen wird; hauptsächlich in Deutschland, Österreich, Schweiz. Wir betreuen aber zum Beispiel auch einen erblindeten Elektroingenieur, der in Toronto eine Firma mit 40 Mitarbeitern betreibt. Das sind dann Projekte, die so richtig Spaß machen.
Redaktion: Vor welchen konkreten Herausforderungen stehen Ihre Kunden bei der Rehabilitation?
Hansjörg Lienert: Wenn jemand erblindet, gibt es eigentlich immer die gleichen Herausforderungen. Das Berufsleben ist gefährdet, die Familie ebenfalls. Der Druck, den man im sozialen System bekommt, steigt. Besonders schwierig ist das, wenn die Leute noch in der Phase sind, in der sie langsam erblinden, aber für sich selbst noch nicht realisiert haben, wie einschneidend die Effekte sind. Sie kämpfen, kämpfen, kämpfen und geraten irgendwann in eine massive Krise. Da spielt vieles rein – die eigene Person, das Arbeitsumfeld, die Familie.
Redaktion: Das erinnert mich daran, wie manche mit einem nachlassenden Gehör umgehen…
Hansjörg Lienert: Ja, das ist auch beim Erblinden klassisch. Wobei es nicht so ist, dass sich die Leute dafür schämen. Aber man erfährt einen Kontrollverlust. Alles wird schwieriger. Sie wissen jedoch nicht, woran es liegt. Das klingt vielleicht seltsam, aber man weiß es tatsächlich nicht. Und zugleich versucht man, es zu verstecken. Sobald man jedoch an dem Punkt ist, an dem man für sich feststellt, dass man jetzt blind ist, dreht sich die Sache. Dann gehen die Leute meist auch offensiv damit um.
In den Ferien sind meine Frau und ich oft in England. Wir sind dann mit vielen Leuten zusammen, ungefähr 50 bis 70 Briten. Wir machen Musik, sind mit Booten unterwegs, machen in Pubs Station, musizieren und tanzen. In den Pubs kommt es manchmal zu komischen Situationen. Jemand spricht mich an, aber ich reagiere nicht, weil es zu laut ist und ich ihn nicht höre. Aber mit den Leuten aus der Gruppe gibt es null Probleme. Sobald die Leute Bescheid wissen, wird alles einfacher. Schwierig ist es immer nur, wenn sie nicht Bescheid wissen. Hat man einen Stock dabei, ist es sowieso klar. Ansonsten ist wichtig, dass man offen mit der Situation umgeht und es kommuniziert.
Redaktion: Nochmal zu Ihrer Arbeit – wie helfen Sie Kunden und deren Arbeitgebern, die Herausforderungen einer Erblindung zu meistern?
Hansjörg Lienert: Unser Ansatz ist der, dass wir weniger ethisch-moralisch oder rechtlich argumentieren. Wir sagen den Arbeitgebern nicht: Ihr müsst ja, es gibt ja Gesetze… Vielmehr sagen wir: Mit unseren Lösungen versuchen wir, den fehlenden Sehsinn so zu kompensieren, dass der Betreffende wieder 100 Prozent seiner Leistung bringt, ohne dass er sich dafür extrem anstrengen muss. Sehbehinderte – wie überhaupt Schwerbehinderte – sind in der Regel bereit, unheimlich viel zu geben. Ich kenne das von mir selbst. Es gibt die Gefahr, dass man überkompensiert, sich zu sehr anstrengt. Sie wollen unbedingt in ihrem Beruf bleiben. Sie gehen dafür auch mal unkonventionelle Wege, sind vielleicht kreativer als andere, oft auch konsequenter.
Sagen wir, ein Mensch hat in seinem Beruf noch 70 Prozent des Leistungsvermögens, das er vor der Erblindung hatte. Das hängt natürlich vom Beruf ab. Ein Bauarbeiter hat vielleicht nur noch 1 Prozent, denn er fällt in jedes Loch. Ein Psychotherapeut hat vielleicht 90 Prozent – oder sogar 110, weil er jetzt konzentrierter zuhört. Aber bleiben wir bei den 70 Prozent. In einem solchen Fall würden wir versuchen, die fehlenden 30 Prozent mit Technik zu kompensieren. Es gibt auch Kunden, die dann deutlich über den vorherigen 100 Prozent liegen. Aber das ist nicht unser Ziel. Es geht ja nicht um ein Wettrennen zwischen Blinden und Sehenden. Aber wir haben Kunden, die deutlich schneller sind als die Sehenden.
Redaktion: Inwieweit sind Ihre Lösungen inklusiv?
Hansjörg Lienert: Unsere Lösungen sind nicht immer inklusiv. Wir lösen ein Problem, das ein bestimmter Mensch hat. Unsere Produkte sind jedoch inklusiv; und das ist etwas Besonderes. Wenn andere Firmen Softwarelösungen anbieten, dann sind sie im besten Fall barrierefrei. Wir gehen da anders vor. Barrierefrei ist unsere Software sowieso. Sie ist nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen optimiert, für solche mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen, ansatzweise auch für solche mit Einschränkungen beim Hören. Wir haben zum Beispiel an der Uni-Klinik in Tübingen einen Telefon-Arbeitsplatz für einen Blinden eingerichtet. Dann kam jemand von der dortigen IT-Abteilung, sah sich das an und fand das hoch interessant. Weil das System nämlich die Möglichkeit bot, viel Zeit und Geld zu sparen. Also arbeiten jetzt sechs oder sieben Leute damit, weil es eben für alle funktioniert – nicht nur für Blinde.
Redaktion: Welche Art eigene Software bieten Sie denn an?
Hansjörg Lienert: Wir haben zwei verschiedene Gruppen von Produkten. Zum einen sind es Ergonomie-Tools, die dabei helfen, Dinge schneller und einfacher zu machen. Das andere sind inklusive Produkte für einen riesigen Markt, auf dem wir mitunter gegen Giganten antreten. Wir haben zum Beispiel ein CRM-System. Gut, wenn eine Firma SAP nutzt, wird sie das wohl kaum gegen unser System tauschen. Aber wenn eine kleine Firma noch gar kein CRM hat, dann kann es gut passen. Und es gibt Lösungen, die an Software andocken, die nicht barrierefrei ist und es durch unsere Lösung dann wird; SAP, Lotus Notes, viele so genannte Fachanwendungen in Behörden, Branchenlösungen.
Redaktion: Sie waren auch am Forschungsprojekt RaVis 3D beteiligt, bei dem der Prototyp einer Radartechnik für sehbehinderte Menschen entwickelt wurde. Wie kam es zu dieser Mitarbeit und wie genau müssen wir uns die hier getestete Lösung vorstellen?
Hansjörg Lienert: Professor Rainer Martin, ein Akustik-Professor von der Universität Bochum, hatte mich angesprochen, ob wir hier nicht mitarbeiten wollen. Solche Anfragen erhalten wir häufiger. Beim Projekt waren wir eine phantastische Gruppe, zeitweise etwa 20 Leute, darunter Professoren, Doktoranden, Firmenvertreter. Das System, das hier entwickelt wurde, nutzt ein Mikrofonarray. Die Umgebung wird per Radar erfasst und dann in Echtzeit in Audiosignale übersetzt, die der Sehbehinderte hören und mit denen er sich orientieren kann. Man kann ermitteln, wo im Raum sich Objekte befinden. Ignoriert werden dabei jene Objekte, die Geräusche machen – also Menschen, Staubsauger, Autos usw. Es geht nur um die stillen Objekte.
Bei der Entwicklung war uns sehr bald klar, dass wir eine ganz einfache Anwendung benötigen, leicht zu handhaben. Nur so eine Lösung hätte auch die Chance, es auf den Markt zu schaffen. So entstand unser erster Prototyp, der äußerlich etwas an eine Taschenlampe erinnert. Inzwischen gibt es auch ein deutlich kleineres Modell.
Redaktion: Den Raum über Schallwellen erfassen – das erinnert mich an Daniel Kish, den blinden „Fledermausmann“, der sich mit Klick-Lauten orientiert und damit sogar Mountainbike fährt…
Hansjörg Lienert: Das ist die Klick-Sonar-Technik. Eine tolle Sache! Ein Problem ist jedoch, dass man die Geräusche hier mit dem Mund erzeugt. Sie sind im Kopf, und das stört schon mal. Hinzu kommt, dass es nur bei Leuten funktioniert, die sehr gut hören und die Technik erlernt haben. Ich selbst bin 63 und habe mittlerweile Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen; vor allem in typischen Party-Situationen mit vielen Leuten und Musik. Mein Ohrenarzt meint, das sei altersgerecht. Mit Klicks kann ich da nicht viel anfangen.
Redaktion: Das bringt uns zum Hören und zu den Hörgeräten. Bei RaVis 3D empfangen Sie die Ortungssignale wie eine Art Einparkhilfe, und dafür wurden dann smarte ReSound Hörgeräte genutzt?
Hansjörg Lienert: In Bochum haben wir das ausprobiert. Herr Kampmann hat mir die Hörgeräte aufgesetzt und dann kam das Signal des Systems direkt in die Geräte. Ich war wie vom Schlag getroffen – im positiven Sinne. Wenn ich zum Beispiel am Computer Audio-Signale habe, dann sind das immer zusätzliche Informationen, die zum normalen Geräuschpegel kommen. Es ist ein bisschen, als würden zwei Schallquellen miteinander konkurrieren. Auf dem Bahnhof eine Zugverbindung aus dem Handy suchen, geht technisch auch irgendwie. Aber tatsächlich ist es dort extrem laut – und damit extrem schwierig.
Das Interessante bei den Hörgeräten war hingegen, dass mich das Audiosignal nicht störte. Das fand ich wirklich spannend. Das Signal kam quasi aus meinem Kopf. Es fühlte sich fast an, als wäre da eine zusätzliche Modalität. Was natürlich nicht der Fall ist, denn es war eben Hören. Aber ich hörte es und konnte dennoch komplett den Raum um mich wahrnehmen – alles, was die Leute redeten, auch solche kleinen, feinen Geräusche. Ich hatte das Signal und konnte dennoch ziemlich entspannt den Raum erkunden. Anders wäre es viel anstrengender. Man müsste sich ständig konzentrieren, um die Signale zu hören.
Redaktion: Was bringt dieser neue Ansatz im Vergleich zu Lösungen, die bereits auf dem Markt sind?
Hansjörg Lienert: Da geht es um blinde Menschen und Mobilität. Dafür gibt es zum Beispiel Abstandswarner. Die klippt man sich an. Man kann sie auf ein, zwei oder drei Meter einstellen, und dem entsprechend brummen sie, wenn man sich einem Gegenstand nähert. Was es jedoch noch nicht gibt, ist eine Lösung, mit der man seine Umgebung außerhalb der Länge eines Blindenstocks aktiv erkunden kann. Der Blindenstock hat ja nur eine begrenzte Reichweite. Und mit so einem System kann ich Räume über größere Distanzen erkunden, kann feststellen, dass etwas weiter weg oder näher ist.
Redaktion: Könnte die Lösung auch den Blindenstock ersetzen?
Hansjörg Lienert: Das nicht. Der Stock hat nach wie vor große Vorteile und es wird wohl noch lange dauern, bis jemand eine so geniale Erfindung hat, die ihn überflüssig macht. Er ist nicht nur unheimlich robust. Vorteil gegenüber einem audiobasierten System ist auch, dass sozusagen nicht noch etwas zusätzlich verarbeitet werden muss. Bei dem System hier muss ich ja zusätzlich noch hören. Wobei das in einem Moment, in dem man sich orientiert, völlig ok ist. Und ich kann Dinge über größere Distanzen abscannen. Ich muss nicht überall mit dem Stock herumlaufen. Wenn ich mit dem Stock zum Beispiel einen Hof erschließen will, muss ich alles ablaufen: Hier ist eine Wand, hier geht’s um die Ecke usw.
Hinzu kommt, dass ich als Blinder keine feste Referenz im Raum habe. Wenn ich einen rechtwinkligen Hof ablaufe, ist es ja noch völlig klar. Aber im offenen Bereich ist das ganz anders. Ich sehe nicht den Baum oder den Turm, an denen ich mich orientieren kann. Ein Sehender hat immer solche Landmarken, an die er sich halten kann. Ich drehe mich einmal und weiß unter Umständen nicht mehr, in welche Richtung ich gucke. Informationen, die ich zu einem bestimmten Punkt gesammelt habe, sind im nächsten Moment wieder weg. Im Gehirn kann nichts Ganzes zusammengesetzt werden. Mit dem Blindenstock muss ich dann immer weiter erkunden und verliere in unbekanntem Gelände relativ schnell die Orientierung.
Redaktion: Und mit dieser neuen Lösung ist das nicht so?
Hansjörg Lienert: Mit der kann ich einfach irgendwo stehen und mein Umfeld erkunden. Verglichen mit jemandem, der gut sehen kann, erscheinen diese Möglichkeiten vielleicht nicht so groß. Mitunter ist die Hilfe aber riesig. Ich habe das System zum Beispiel getestet, indem ich auf dem Bürgersteig hoch und runter gelaufen bin. Für mich, der spät erblindet ist, gibt es da immer noch Momente, in denen ich mich sehr erschrecke. Ich gehe nichtsahnend, und plötzlich – wusch! – geht ein anderer an mir vorbei. Am Tag sehe ich seine Umrisse ja noch. Aber im Dunklen ist das ein richtig blödes Gefühl.
Redaktion: Mit der Lösung fühlen Sie sich sicherer?
Hansjörg Lienert: Ja. Bei uns in der Straße wurde jetzt z. B. wieder Papier abgeholt, dann stehen eben überall die Papiertonnen… Es ist viel angenehmer für mich, wenn ich gehe und schon von weitem höre, da ist wieder etwas. Sonst stoße ich mit dem Blindenstock dagegen. Das ist dann immer wie ein Stopppunkt. Aber wenn ich schon vorher Bescheid weiß und nicht erst in dem Moment, in dem ich mit dem Stock dagegen klacke, dann ist das eine andere Qualität. Ich kann mich einstellen, den Schritt vielleicht etwas verlangsamen. Der Stressfaktor wird reduziert. Und den Nachteil, dass man ständig die Audio-Signale bekommt, kann man ja dadurch entkräften, dass man das System nicht ständig laufen lässt. – Also zum Beispiel nicht in freier Natur, wenn ich eigentlich die Vögel hören will.
Vor 20, 30 Jahren, als ich noch deutlich besser sehen konnte, war ich nie ängstlich auf der Straße. Ich habe Karatesport gemacht. Ich wusste, egal was passiert, bis zu einem bestimmten Grad kannst du dich verteidigen. Als ich dann immer weniger sehen konnte, war das schon heavy. Wenn Sie angegriffen werden und sehen es nicht, ist das noch mal eine ganz andere Situation, als wenn Sie sich auf einen Angriff einstellen können. Aber mit dem System war das anders. Weil sich das Signal geändert hat, konnte ich hören: Ok, da kommt jemand. Ich höre ja, ob da eine Mülltonne steht oder ein Mensch kommt. Wenn da eine Mülltonne steht, gehe ich mit einer bestimmten Geschwindigkeit und höre, wie sich der Ton verändert. Aber wenn mir jemand entgegenkommt, ist das seine Geschwindigkeit plus meine Geschwindigkeit. Dann ändert sich die Tonhöhe entsprechend anders. Wobei man natürlich Erfahrung braucht, um das auch wahrnehmen zu können.
Redaktion: Welche Rolle spielen eigentlich die Blindenführhunde für die Mobilität?
Hansjörg Lienert: Ein Hund ist gut für feste Wege, etwa für einen Arbeitsweg. Er führt einen um Hindernisse herum oder hilft, eine Ampel zu finden. Aber beim Erkunden einer neuen Umgebung hilft er nicht so viel. Da ist das System hier sicherlich besser geeignet. Es ist eben eine Ergänzung für den Stock und für den Hund. Und es will auch nicht jeder einen Hund. Ich hab mich z. B. gegen einen Blindenhund entschieden. Wenn ich unterwegs bin, muss ich immer auch Gepäck mitnehmen. Wo tue ich den Hund dann hin?! In vollen Zügen treten ihm die Leute vielleicht auf die Pfoten…
Redaktion: Was wären typische Situationen, in denen Sie die neue Lösung nutzen würden?
Hansjörg Lienert: Vor allem unterwegs in einer unbekannten Umgebung; wenn ich zum Beispiel einen Bahnhof erkunde. Es gibt ja nicht nur solche Standardbahnhöfe, sondern auch welche, die sehr eigenartig angelegt sind. In solchen Räumlichkeiten hätte man dann eine Unterstützung. Auch in einem Hotel würde ich das System benutzen, um mich zu orientieren und mir im Kopf ein Gesamtbild zu bauen. Sonst sind bestimmte räumliche Informationen sehr schnell wieder weg, wie verdunstet. Aber mit dem System kann ich bestimmte Strukturen doch hören. Im Hotel weiß ich dann: Ok, da geht ein langer Gang ab. Das höre ich auf jeden Fall, weil der Ton nach unten sackt. Im Hotel melde ich mich meist zuerst an und lasse mich anschließend ins Zimmer führen. Dann bin ich den Weg einmal gegangen. Und oft finde ich mein Zimmer dann auch wieder. Aber manchmal ist es komplizierter. Und wenn ich dann am nächsten Morgen wieder Richtung Rezeption gehe, kann ich mir den Weg mit so einem Hilfsmittel besser erschließen.
Redaktion: Und die Signale würden Sie in Hörgeräten empfangen?
Hansjörg Lienert: Das ist die Idee. Da muss man jetzt natürlich noch sehen, wie die Leute das akzeptieren. Ich selbst war jedenfalls sofort überzeugt – innerhalb von Sekunden. Die Geräte sind ja auch so winzig, das ist ja nichts mehr. Und die Kopplung ließe sich ggf. über das Handy bewerkstelligen. Man könnte die Taschenlampe an das Handy koppeln. Die Audio-Ausgabe könnte über das Smartphone erfolgen. Es könnte sozusagen als eigenständiges System fungieren, in dem die Daten onboard verarbeitet werden, oder die Verarbeitung passiert im Smartphone.
Aktueller Stand ist erstmal, dass der Proof of Concept funktioniert hat. Der erste Prototyp war noch zu groß. Aber der kleinere Prototyp, den es inzwischen gibt, wäre schon eine praktikable Lösung. Über diese Ausführung entscheiden letzten Endes die beteiligten Firmen. Ob und wann das System auf den Markt kommt, kann ich derzeit noch nicht sagen.
Redaktion: Herr Lienert, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch.
Das Gespräch mit Hansjörg Lienert führte Martin Schaarschmidt.
Foto: Schaarschmidt