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29.03.2023

„Ein Miteinander fürs Hören“

PD Dr. Anke Leichtle (Lübeck) über Erfahrungen mit dem Cochlear™ Osia™ System und über die Zusammenarbeit mit Hörakustikern

Mit dem CochlearTM Osia® System präsentiert der Hersteller Cochlear eine neuartige Lösung für die Versorgung von Menschen mit Schallleitungs-Schwerhörigkeit, kombiniertem Hörverlust oder einseitiger sensorineuraler Taubheit (SSD). Vor einem Jahr wurde das System erstmals in Deutschland implantiert und mittlerweile ist es mancherorts bereits fester Bestandteil des Klinikportfolios – etwa auch in der Sektion für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck unter Klinikleiter PD Dr. Karl-Ludwig Bruchhage. Die Oberärztin der Klinik, PD Dr. Anke Leichtle, schilderte in ihrem Vortrag bei der EUHA-Frühjahrstagung erste Erfahrungen mit der Versorgung, die im interdisziplinären Zusammenspiel mit spezialisierten Hörakustik-Partnern erfolgt. Mehr erfuhren wir bei einem Interview.

Redaktion: Frau Dr. Leichtle, die Universitätsklinik Lübeck gehörte 2021 zu den ersten Kliniken, die schwerhörige Patienten mit Cochlear Osia versorgten. Bitte erzählen Sie uns kurz, was das Besondere an dieser Lösung ist.

Dr. Leichtle: Das System besteht aus einem Wandler, der unter der Haut liegt, und einem sehr schlanken Soundprozessor, der flach auf der Haut liegt und magnetisch am Kopf des Patienten hält. Die aus Schall erzeugten Vibrationen werden über den Knochen weitergeleitet. So können geschädigte Bereiche des Hörorgans umgangen werden. Der Schall gelangt direkt ins Innenohr.

Das Osia System hat einen Anpassbereich von bis zu 55 dB Innenohrschwerhörigkeit, bietet ausreichend Reserven bei progredientem Hörverlust und stellt somit eine dauerhafte Lösung dar.

Redaktion: Welche Erfahrungen konnten Sie bislang mit Cochlear Osia sammeln?

Dr. Leichtle: Mittlerweile haben wir acht Patienten mit dem System versorgt und unsere Erfahrungen sind sehr gut. Durch den Anpassbereich von 55 dB erweitert sich der Indikationsbereich für Knochenleitungslösungen. Mit Cochlear Osia können wir eine Reihe von Patienten versorgen, die zuvor nicht für eine Knochenleitungshörlösung in Frage kamen, etwa Patienten, die chirurgisch mit einer Radikalhöhle versorgt wurden.

Aus Sicht der Chirurgin möchte ich sagen, dass die Versorgung für den ohrchirurgisch versierten Operateur gut durchzuführen ist. Für die bisher durchgeführten OPs benötigten wir etwa 60 Minuten. Wer die OP erstmals durchführt, erhält zudem eine Begleitung durch Cochlear.

Redaktion: Was sind für Sie typische Indikationen für eine Versorgung über Knochenleitung – und speziell für Cochlear Osia?

Dr. Leichtle: Typische Indikationen bestehen bei Patienten mit Ohrfehlbildungen verschiedener Ausprägung, zum Beispiel bei Patienten mit intaktem Innenohr und fehlendem Gehörgang (Atresie). Hinzu kommen Patienten, die aufgrund von Feuchtigkeit im Gehörgang keine Hörgeräte tragen können – sei es aufgrund einer Materialunverträglichkeit oder aufgrund einer Radikalhöhle nach vorangegangener Operation.

Mit Blick auf Cochlear Osia könnte man verallgemeinernd sagen: Es kann eine Lösung sein, wenn Patienten Schwierigkeiten mit dem Gehörgang und bzw. oder dem Mittelohr haben, und wenn ihnen Hörgeräte keine ausreichende Hilfe bieten.

Redaktion: Wann würden Sie dieses System empfehlen? Und wann würden Sie eine andere Lösung mit Knochenleitung bevorzugen?

Dr. Leichtle: Pauschal kann man das nicht sagen. Die Übergänge von diesem zum Baha® System und anderen auf dem Markt verfügbaren Systemen sind fließend. Was sich empfiehlt, hängt auch vom jeweiligen Patienten und von dessen Anatomie ab. Das ist sehr individuell. Baha ist vergleichsweise groß, was bei einer zierlicheren Person oder bei einem Kind eine Rolle spielen könnte. Das Cochlear Osia ist flach und muss daher nicht tief in den Knochen implantiert werden. Und es bietet wie das Baha viele Optionen zur Vernetzung.

Redaktion: Gibt es noch weitere Vorteile?

Dr. Leichtle: Schön ist, dass die Kopfhaut beim Cochlear Osia komplett geschlossen bleibt. Dadurch, dass es kein Abutment gibt, ist das Risiko einer Wundheilstörung deutlich geringer und es bedarf keiner dauerhaften Pflege. Zudem ist für viele Patienten der ästhetische Aspekt sehr wichtig. Das System ist elegant und sehr komfortabel. Der Prozessor sitzt auf einem Magneten. Man kann ihn jederzeit einfach mal abnehmen – etwa zum Duschen oder Schwimmen.

Redaktion: Wie sind die Altersgrenzen für eine Versorgung? Lässt sich das System auch für Kinder verwenden?

Dr. Leichtle: Bei Kindern ist die Altersgrenze für Hörimplantate mit Knochenleitung generell in der Diskussion. Früher hieß es, dass Kinder erst ab etwa fünf Jahren für eine Implantation geeignet sind. Heute sind schon bei 3-jährigen Versorgungen möglich. Inwieweit das Cochlear Osia schon für so kleine Kinder geeignet ist, ist auch abhängig von anatomischen Gegebenheiten. Um das Implantat in den Schädelknochen zu impantieren, benötigt man eine gewisse Fläche. Bei kleinen Kindern ist das eine besondere Herausforderung. (Laut Zulassung ist die Dicke des Knochens der beschränkende Faktor, nicht das Alter – Anm. d. Red.)

Redaktion: Welche Patienten haben Sie bislang mit der Lösung versorgt? Könnten Sie uns einen typischen Fall schildern?

Dr. Leichtle: Neben Patienten mit nicht angelegten Gehörgängen haben wir Patienten mit feuchten Radikalhöhlen nach multiplen Voroperationen versorgt. Exemplarisch ist ein 40-jähiger Patient, dessen Ohr zuvor bereits dreimal operiert worden war. Er hatte eine Innenohrschwerhörigkeit von 45 dB mit kombinierter Schallleitungsschwerhörigkeit. Mit seinem Hörgerät war er nicht zufrieden. Neben seinem einseitigen Hörverlust störte ihn auch die ständige Feuchtigkeit im Ohr und der damit einhergehende Geruch, der ihn sozial isolierte.

Als er zu uns kam, wollte er eigentlich keine weitere OP. Dann räumte er ein, dass er sich eine kleinere äußere Operation doch vorstellen könnte. Aufgrund seiner Vorgeschichte und seiner Anatomie war das Cochlear Osia Implantat die beste Versorgungsmöglichkeit.

Redaktion: Mit welchem Ergebnis?

Dr. Leichtle: Mit einem optimalen Ergebnis. Das Ohr ist nun trocken, da es nicht mehr durch ein Ohrpassstück okkludiert ist. Und es gibt optimales Hören. Einen Monat nach Aktivierung hatte er bereits eine Verständlichkeit von 55% im Störgeräusch.

In Ruhe war sein Hörvermögen von Anfang an exzellent und auch das Richtungshören war gleich gut. Für geräuschvolle Situationen hingegen brauchte er etwas mehr Zeit. Das ist nicht ungewöhnlich und hängt ein bisschen vom Typ ab. Manch einer kommt auch in lauten Umgebungen schnell zurecht, andere müssen sich erst gewöhnen. Sie hören eben viele Geräusche, die sie vorher nicht hatten. Zu Beginn kann das störend sein.

Redaktion: Inwieweit ist diese Gewöhnung vergleichbar mit einer Gewöhnung an das neue Hören mit Hörgerät oder auch CI?

Dr. Leichtle: Mit dem Erlebnis einer Hörgeräte-Erstversorgung mag es vergleichbar sein, der Wow-Effekt wird dennoch von unseren Patienten intensiver beschrieben. Der Einstieg ins Hören mit einem Cochlea-Implantat ist etwas ganz anderes. Man lernt erst das Hören, danach das Verstehen; das ist jedoch auch individuell sehr unterschiedlich.

Redaktion: Wie stellen Sie Patienten, die für eine Versorgung in Frage kommen, diese Lösungen vor?

Dr. Leichtle: Wir erklären, wie so etwas funktioniert, zeigen auch, wie das am Kopf aussieht, benennen Vor- und Nachteile. Und wir geben die Möglichkeit, es zu testen. Das geht z.B. mit einem Baha Soundprozessor am Softband oder dem Cochlear SoundArc™. Zum Testen schicken wir die Patienten auch vor die Tür. Sie sollen die Vorteile des Systems in verschiedenen Situationen erleben. Hier in Lübeck kooperieren wir seit Jahren sehr gut mit Hörakustikern, mit denen wir auch bei solchen Tests sehr eng zusammenarbeiten.

Die Messwerte zeigen uns bereits, ob die Versorgung funktionieren könnte. Doch der Patient sollte von sich aus ebenfalls feststellen, dass es ihm etwas bringt. Dann kann man ihm die Operation auch guten Gewissens empfehlen. Wenn wir ihn hingegen nur über die Ziellinie schleppen, ist das nicht gut. Um die Patienten bei der Entscheidung zu unterstützen, vermitteln wir ihnen zudem Kontakt zu Gesprächspartnern, die bereits mit der jeweiligen Implantat-Lösung versorgt sind. Dieser Austausch kann ebenfalls sehr hilfreich sein.

Redaktion: Gibt es bei Knochenleitungshörsystemen auch eine Art Nachsorge bzw. Reha?

Dr. Leichtle: Die Nachsorge besteht vor allem aus den Sitzungen für die Feinanpassung. Die Einstellung der Systeme erfolgt bei uns in Zusammenarbeit mit Hörakustikern. Das hat sich seit langem bewährt. Die Patienten suchen einen Akustiker aus unserem Netzwerk auf und dort wird schon mal sehr gut angepasst. Dann kommen die Patienten wieder zu uns. Sie absolvieren verschiedene Hörtests und anschließend erfolgt die Feinanpassung.

Meistens reichen insgesamt zwei bis drei Sitzungen. Eine umfangreiche Reha wie beim CI braucht man also in der Regel nicht. Auch die Einweisung in die Bedienung geht schnell, das ist alles relativ selbsterklärend. Entscheidend ist wie gesagt nur, dass sich der Patient an das neue Hören gewöhnt. Übrigens sind die Patienten auch froh, wenn sie nicht so oft in die Klinik zurück müssen.

Redaktion: Sie kooperieren mit einem Netzwerk aus Hörakustikern – auf Basis eines eigenen Kooperationskonzeptes. Wie kam es dazu und wie sieht dieses Konzept aus?

Dr. Leichtle: Diese Zusammenarbeit ergab sich fast von selbst. Die Hörakustiker, mit denen wir kooperieren, sind sehr an hochwertigen Hörversorgungen interessiert. Sie qualifizieren sich weiter und wollen ihr Portfolio ausbauen. Wir hingegen können durch ihre Unterstützung die Klinik-Präsenz deutlich erweitern und den Patienten einen optimalen und fast familiären Service anbieten. Der Patient muss dann nicht immer in die „große Uniklinik“.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich schnell eine sehr gute Zusammenarbeit. Wichtig ist dabei, dass alle Qualitätskriterien erfüllt sein müssen, denn die Patienten sollen gut betreut werden. Die Hörakustiker unseres Netzwerks haben alle erforderlichen Zertifizierungen. Die Zusammenarbeit erfolgt auf Basis von Kooperationsverträgen. Die Akustiker kennen unsere Strukturen, unsere Hard- und Soft-Skills. Sie wissen, was wir brauchen und vice versa. Beide Seiten müssen zufrieden sein und gute Kommunikation ist entscheidend.

Redaktion: Wie funktioniert dieser Informationsaustausch?

Dr. Leichtle: Wir kennen uns alle oder lernen uns kennen. Lübeck ist dafür bestens geeignet. Die Zusammenarbeit erfolgt durch kurze Absprachen, schnell und unbürokratisch. Man ruft sich an oder schickt eine E-Mail. Es ist schon ein sehr persönliches Verhältnis.

War der Patient zur Erstanpassung beim Hörakustiker, dann kommt er noch mal hierher. Wir kontrollieren, dass seine OP-Wunde gut abheilt. Er bringt vom Hörakustiker einen Hörtest mit oder der Test kommt schon vorher per Mail. Dann telefonieren wir und verständigen uns, inwieweit die Einstellung beim Patienten noch etwas optimiert werden könnte. Es gibt sogar Patienten, die nicht mehr in die große Klinik kommen wollen. Von denen erhalten wir nur den Test und wissen dann, alles ist gut. Und wenn ein Patient kommt und happy ist, sieht man das gleich; dann strahlt er.

Redaktion: Woher haben Ihre Partner-Akustiker das erforderliche Know-how? Schulen Sie sie auch?

Dr. Leichtle: Ja, kürzlich haben wir wieder eine Seminarreihe durchgeführt. Und wir laden Akustiker ein, einige Tage bei uns in der Sprechstunde für implantierbare Hörlösungen zu hospitieren.

Redaktion: Wären Sie denn auch offen für eine Zusammenarbeit mit weiteren Hörakustikern Ihrer Region? Kann man sich noch bei Ihnen melden?

Dr. Leichtle: Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind und wenn beide Seiten es möchten, absolut. Es ist das, was wir uns eigentlich wünschen – dass man immer mehr zusammenfindet. Wenn Hörakustiker und Kliniken zusammenfinden, profitiert davon in erster Linie der Patient.

Eine Besonderheit ist, dass wir hier in unserer Klinik natürlich eine große Nähe zur Akademie für Hörakustik haben. Seit Jahren halten wir dort Vorlesungen und Kurse und lernen Masterstudenten und Akustiker in der Meisterausbildung kennen. Mitunter bin ich geschockt von den Erfahrungen, die sie in anderen Regionen mit Klinikärzten gemacht haben. Es heißt dann sinngemäß: „Bei denen traut man sich gar nichts zu sagen.“ Wahrscheinlich sind das nicht nur Vorurteile, sondern tatsächlich Erfahrungen. Aber das ändert sich gerade. Um die Chancen, die wir heute haben, zu nutzen, muss es ein Miteinander geben. Schließlich wollen wir alle das Beste für die Patienten. – Hörakustiker können uns gerne jederzeit kontaktieren. Wir bieten ihnen auch die Möglichkeit, bei uns reinzuschnuppern und mal zu hospitieren. Wir freuen uns darüber und darauf.

Redaktion: Frau Dr. Leichtle, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch.

Der Beitrag erschien ursprünglich in der Fachzeitschrift „Hörakustik“, Ausgabe 9-2022.