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03.04.2023

„Anfangs gab es große Skepsis…“

Im Gespräch mit Dr. Bodo Bertram über den Beginn der CI-Versorgung von Kindern in Deutschland.

Sucht man nach Zeitzeugen, die über die Anfänge der Cochlea-Implantat-Versorgung in Deutschland berichten können, dann kommt man an Dr. Bodo Bertram nicht vorbei: Der promovierte Gehörlosenpädagoge entwickelte ab Ende der 80er Jahre in enger Zusammenarbeit mit dem deutschen CI-Pionier Professor Ernst Lehnhardt das erste Reha-Konzept für CI-versorgte Kinder. Dessen Umsetzung übernahm er dann gemeinsam mit seinem Team im neu geschaffenen Cochlear Implant Centrum (CIC) „Wilhelm Hirte“ in Hannover, dem ersten CI-Zentrum Deutschlands, das Bodo Bertram fast 20 Jahre leitete. Wir trafen ihn zum Interview.

Redaktion: Herr Dr. Bertram, Sie haben ab Ende der 80er Jahre in Hannover das erste Reha-Konzept für CI-versorgte Kinder entwickelt und umgesetzt. Davor hatten Sie als Gehörlosen-Pädagoge gearbeitet – in der DDR?

Bodo Bertram: Ja, das stimmt (lacht). Dort war ich im Laufe meiner Tätigkeit schon früh politisch angeeckt. Nach dem Abitur begann ich ein Lehrerstudium für Biologie und Sport, brach es jedoch ab. Ich arbeitete danach als Erzieher an der Gehörlosenschule in Halle und machte nebenberuflich eine Ausbildung am dortigen Lehrerbildungsinstitut. 1972 wechselte ich an die Gehörlosenschule Berlin, nahm dann von 1976-1978 ein Sonderschulstudium an der Berliner Humboldt-Universität auf und schloss es als Diplompädagoge für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche ab. Es war ein sehr vielseitiger und fundierter Studiengang, zu dem hörgeschädigten- und sprachbehindertenpädagogische ebenso wie psychologische Fächer gehörten. Grundlagen der Audiologie sowie medizinische Grundlagen der Pädiatrie, der HNO-Heilkunde und der Kinderpsychiatrie wurden ebenfalls vermittelt.

Im Anschluss sollte ich im Rahmen einer Aspirantur eine Dissertation zum Thema „Früherfassung gehörloser Kleinkinder in der DDR“ schreiben. Doch aufgrund meiner politischen Haltung wurde mir diese verwehrt. Ich unterrichtete dann 5 Jahre an der Gehörlosenschule „Albert Gutzmann“ in Berlin. Es war beabsichtigt, eine Klasse für taubblinde Kinder zu eröffnen, die ich gern übernommen hätte. Aber auch das wurde mir aus ideologischen Gründen verwehrt. Da ich auch keine Genehmigung für eine außerplanmäßige Aspirantur erhalten hatte, war das der Schlusspunkt für mich. Ich stellte Ende 1986 einen Ausreiseantrag, wurde entlassen und arbeitete in der „Wartezeit“ als Sprachtherapeut an einem evangelischen Kinderheim Heim für behinderte Kinder. Im September 1988 erhielt ich dann schließlich die Ausreiseerlaubnis in die Bundesrepublik.

Redaktion: Zu dieser Zeit plante Professor Lehnhardt, erstmals Kinder mit einem Nucleus CI zu versorgen. Wie fanden Sie zueinander?

Bodo Bertram: Über das Arbeitsamt Hannover. Nach meiner Ausreise kam ich durch einen befreundeten Arzt, der sich während meiner Ausreisezeit sehr für mich und meine Kinder eingesetzt hatte, nach Peine, nicht weit von Hannover. Bis meine Zeugnisse durch die Behörden als gleichwertige Ausbildung anerkannt waren, verging ein halbes Jahr. Außerdem bekam ich zusätzlich die Anerkennung als Logopäde. Das Arbeitsamt in Hannover schickte mir ein Angebot: Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) suchte einen Experten für gehörlose Kinder. Ich habe mich sofort dort vorgestellt und wurde zunächst von Herrn Professor Battmer interviewt, der mir in diesem Gespräch sehr wohlwollend die zukünftigen Anforderungen erläuterte und mich auch für die Anstellung empfohlen hat. Dann kam Professor Lehnhardt. Ich sehe ihn heute noch vor mir stehen. Er guckte mich von oben an und bestellte mich zunächst in sein Büro. Nach einer kurzen Auswertung der Beurteilung von Professor Battmer lud er mich zum Wochenende zu sich nach Hause ein. Er wollte mich wohl „abklopfen“ und mir seine zukünftigen Pläne zur CI-Versorgung von Kindern erläutern. Schließlich bekam ich die Stelle.

1984 hatte Professor Lehnhardt bereits mit der CI-Versorgung von postlingual ertaubten Erwachsenen begonnen; und die Patienten hatten zur großen Überraschung relativ schnell Sprache verstanden. Nun wollte er auch gehörlose Kinder versorgen. Ihm war klar, dass er dafür jemanden braucht, der ein Rehabilitationskonzept entwickelt; also ein postoperatives medizinisch-pädagogisches Konzept. Das wurde meine zukünftige Aufgabe, später auch das Thema meiner Dissertation an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Redaktion: Welche Erinnerungen haben Sie an die allerersten CI-Kinder?

Bodo Bertram: Das erste Kind, mit dem ich zu tun hatte, war ein kleines Mädchen aus Dubai. Professor Lehnhardt hat es wohl im Alter von dreieinhalb Jahren mit einem CI versorgt. Zuvor hatte er jedoch gezögert, weil er sich nicht sicher war, ob noch Hörreste vorhanden sind. Er erzählte mir, dass die Mutter ihn zur Operation gedrängt hätte. Eine extracochleäre Elektrode, die er erwogen hatte, hätte keinen Erfolg gezeitigt. Sowohl Professor Lehnhardt als auch Professor Battmer haben stets mit großem Verantwortungsbewusstsein ihre Entscheidungen abgewogen. Ich habe das Mädchen dann kurzzeitig betreut. Soweit ich weiß, hat sie später in der Schweiz studiert und sie spricht heute Arabisch, Englisch und Deutsch.

Das erste Kind aus Deutschland war ein Junge, der infolge einer Meningitis beidseits ertaubt war. Er war ungefähr vier Jahre alt. Ich habe ihn vor drei Jahren in Wien wiedergetroffen; er lebt heute dort und hat ein Technikstudium absolviert. Die ersten Kinder operierte Lehnhardt in einem Alter von drei bis vier Jahren, also zu einem Zeitpunkt, an dem hörende Kinder schon gut in der Lautsprache unterwegs sind. Inzwischen ist es ja durch das Neugeborenen-Hörscreening möglich, hörgeschädigte Kinder frühzeitiger zu erfassen, sie früh mit adäquaten Hörhilfen zu versehen sowie therapeutisch zu intervenieren. Sollten Hörgeräte keinen Erfolg für den Lautspracherwerb erbringen, ist eine sehr viel frühere CI-Versorgung möglich.

Redaktion: Doch damals waren diese Versorgungen völliges Neuland…

Bodo Bertram: Wir lernten ständig dazu. Eine wichtige Frage war zum Beispiel, wie lange so ein Implantat hält. Lehnhardt hatte bereits ca. 135 Erwachsenen ein CI implantiert, ehe er mit Kindern begann. Er wollte sicher gehen und nachweisen, dass die Implantate sehr sicher und im Fall eines Defekts austauschbar sind. Auch musste ihre Größe für den Schädel eines Kindes geeignet sein. Das war erst beim Nucleus CI22M der australischen Firma Cochlear der Fall. Also hoffte Lehnhardt, gehörlosen Kinder nunmehr einen hörgestützten Lautspracherwerb ermöglichen zu können.

Es gab immer neue Erfahrungen. Ein kleines Mädchen, das nach einer Meningitis beidseits ertaubt war, sollte ein CI bekommen. Doch es stellte sich während der Operation heraus, dass das Inserieren des Elektrodenträgers in die Scala Tympani nicht möglich war. Eine partielle Obliteration war der Grund dafür. Also operierte Lehnhardt die zweite Seite.

Redaktion: Wie wurde die neue Behandlungsmethode allgemein bewertet?

Bodo Bertram: Der neuen Methode wurde anfangs mit großer Skepsis und sogar mit Ablehnung begegnet – sowohl seitens vieler HNO-Ärzte als auch von Vertretern aus der Wissenschaft. Und auch viele Hörgeschädigtenpädagogen begegneten dem Cochlea-Implantat sehr, sehr zurückhaltend. Der Grund dafür waren Erfahrungen, die sie Jahre zuvor mit dem Implantat von Banfai, einem Implantat mit perkutaner Übertragung, gemacht hatten. Soweit ich weiß, wurden mit ihm auch ältere Kinder versorgt. Das brachte kaum Erfolge. Die Kinder hatten keinerlei Nachsorge, und letztendlich legten die Versorgten ihr CI ab bzw. ließen es explantieren.

Redaktion: Wie sind Sie dieser Skepsis begegnet?

Bodo Bertram: Indem wir von Beginn an den Kontakt zu den Schulen suchten. Lehnhardt und ich wurden ständig eingeladen. Anfangs hat nur er gesprochen, dann haben wir uns die Aufgabe geteilt – er referierte den medizinischen Anteil der CI-Versorgung und ich stellte das Konzept der postoperativen Rehabilitation vor. Auch hielten wir in einer Reihe von HNO-Kliniken Vorträge, ebenso auf Kongressen. Wir waren in 70 bis 80 deutschen Städten. Später ging es auch durch Europa und in Länder außerhalb des Kontinents.

Eine Stärke unserer Aufklärungsarbeit war sicherlich, dass wir das CI auch hinterfragten: „Es ist eine beeindruckende Technik, aber wir haben es mit Menschen zu tun, die haben Hoffnungen, die sich nicht immer erfüllen lassen.“ – Für diese Haltung kritisierte man mich oft. Ich denke jedoch immer noch, wir müssen ehrlich sein. Jede Therapie hat Grenzen, und neben vielen Erfolgen kann es auch Misserfolg geben.

Redaktion: Wie ging es damals weiter?

Bodo Bertram: Wenn sich interessierte Eltern in der MHH meldeten, nahm ich sofort Kontakt zu den jeweiligen Schulen bzw. den Frühförderstellen auf. Über sie bekamen wir Antwort auf einem für die Entscheidungsfindung entwickelten Fragebogen: Wie ist die sprachliche Entwicklung des Kindes? Nutzt es Hörgeräte? Wie wird die Hör-Sprachentwicklung des Kindes mit Hilfe der bisher genutzten Hörgeräte beurteilt? Wie steht das familiäre Umfeld zu einer möglichen CI-Versorgung des Kindes? Welche Motive haben die Eltern für eine Implantation und inwieweit ist die Schule bereit, das Kind zu unterstützen? – Danach stellte ich die Kinder bei Lehnhardt vor. Das war noch an der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule. 1990 zogen wir dann – Dank des intensiven Engagements von Lehnhardt – in ein kleines Haus.

Redaktion: Das war so zusagen die Geburt des Cochlea-Implant-Centrums Hannover?

Bodo Bertram: Ja, und es war die überhaupt erste Einrichtung dieser Art weltweit. Lehnhardt hat das mit seinen Kontakten und seiner Autorität möglich gemacht, auch die schwierige Finanzierung. In dem Zusammenhang muss man auch den deutschen Krankenkassen danken, die die Versorgung durch die Übernahme der Kosten ermöglichten. Für die Trägerschaft wollte Lehnhardt anfangs die MHH gewinnen, doch die lehnte ab. Die Trägerschaft hat dann dankenswerter Weise die Stiftung Hannoversche Kinderheilanstalt, vertreten durch den damaligen Geschäftsführer Herrn Dipl. Kaufmann Berking, übernommen. Später hat sich auch sein Nachfolger, Herr Dr. Thomas Beushausen, stets mit großem Einsatz für die Belange des CIC eingebracht.

Die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG) unterstützte uns finanziell und die Hörakustik-Firma KIND finanzierte zu Beginn die Gehälter zweier Kollegen. Wir hatten ein Konzept und entsprechende Räumlichkeiten für unsere Arbeit. Mir standen von Anfang an Mitarbeiter zur Seite, die sich ebenso wie ich mit großem Engagement der neuen Herausforderung stellten. Dieses Engagement hat all die Jahre nie nachgelassen. Das spürten auch die Eltern und die Kinder. Die Arbeitsfreude und die Empathie der einzelnen Mitarbeiter waren unser größter Schatz. Dafür gebührt ihnen mein größter Respekt und ein großer Dank. Auch die vielen Besucher waren von diesem Engagement stets beeindruckt.

Redaktion: Wie sah Ihr Konzept aus?

Bodo Bertram: Wichtig war mir, dass es während der Aufenthalte bei uns nicht nur um das Hören und Sprechen sowie um eine optimale Anpassung der Sprachprozessoren geht. Vielmehr sollte die Entwicklung der Kinder in Gänze Berücksichtigung finden. Das schloss neben der Förderung der hörgestützten Lautsprachentwicklung auch die Förderung von Freude am Spiel und die Entwicklung von Kreativität mit ein. Daher stellte ich ein multiprofessionelles Team zusammen. Das Konzept vereinte unterschiedliche Berufsbilder wie Elektroingenieure für die Anpassung der Sprachprozessoren, Gehörlosenpädagogen, Diplompädagogen für Sprachbehinderte, Logopäden, Atem-, Stimm- und Sprechtherapeuten sowie die musikalisch-rhythmische Erziehung und die heilpädagogische Förderung durch eine qualifizierte Erzieherin.

Später dann, im neuen CIC „Wilhelm Hirte“, kam noch die motopädische sowie ergotherapeutische Förderung von Kindern durch qualifizierte Mitarbeiter dazu. Das war wichtig, da wir auch zunehmend Kinder mit zusätzlichen Erschwernissen im Reha-Programm betreuten. Außerdem war mein Ansatz schon immer, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Für mich war die Methode an sich nicht so entscheidend. Ausschlaggebend waren vielmehr das Kind mit seinen Bedürfnissen und die in ihm wohnenden Ressourcen, die wir für unsere Arbeit aktivieren wollten.

Redaktion: Könnten Sie das bitte erläutern?

Bodo Bertram: Den Studenten und Mitarbeitern habe ich immer gesagt: „Wenn sie mit den Kindern arbeiten wollen, und sie kommen mit der Vorstellung, dies und jenes werde ich jetzt machen, dann fallen Sie unter Umständen auf die Nase.“ Kinder haben ihren eigenen Kopf – Gott sei Dank! Sie können die besten Bemühungen des Pädagogen zu Fall bringen. Wenn im Pädagogen kein Feuer für die Arbeit brennt, wenn ihm ein gewisser Spürsinn für die augenblicklichen Bedürfnisse des Kindes fehlt, wird er vom Kind auch wenig Resonanz erhalten. Kinder haben ein feines Gespür dafür, wie der Gegenübersitzende ihnen zugewandt ist. Um das deutlich zu machen, habe ich bei Vorträgen oder vor Studenten auch immer Videos von meiner therapeutischen Arbeit gezeigt. Das ist eindringlicher als nur zu dozieren.

Redaktion: Wie wichtig waren die Eltern für das Konzept?

Bodo Bertram: Ihre Einbindung war von Anfang an Bedingung, da sie die entscheidenden Vermittler resp. Vorbilder für die zukünftige lautsprachliche Entwicklung ihrer Kinder sind. Und sie mussten bereit sein, alle Anstrengungen mitzutragen. Die Entscheidung für eine CI-Versorgung ihrer Kinder ist eine Entscheidung, die wohldurchdacht sein muss. Die beste Unterstützung, die wir hier geben konnten, war eine gute, umfassende Information zu Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der CI-Versorgung im Vorfeld der Operation; und das gemeinsam mit der operierenden Klinik. – Für die Eltern ein sehr wichtiges Momentum, spürten sie doch auf diese Weise die enge Verknüpfung von Medizin, Technik und Rehabilitationspädagogik.

Daher nahmen wir entweder die Mutter oder den Vater mit im CIC auf. Somit war eine enge Zusammenarbeit zwischen uns und den Eltern gesichert. Anfangs kamen die Kinder für 14 Tage. Wir merkten jedoch bald, dass es für die Eltern schwierig war, so lange frei zu nehmen. Also verkürzten wir den Aufenthalt später auf eine Woche. Insgesamt war jedes Kind 60 Tage bei uns, verteilt auf zwei bis drei Jahre.

Redaktion: Das CIC ist dann sehr schnell gewachsen?

Bodo Bertram: Es kam zu einem regelrechten Run auf Hannover. Innerhalb eines Jahres benötigten wir ein zweites Haus. Wieder war es Lehnhardt, der sich darum bemühte. Bedingt durch die deutsche Einheit wurden britische Militäreinrichtungen frei. 1994 konnten wir das Gelände des ehemaligen britischen Hospitals erwerben – das heutige CIC „Wilhelm Hirte“. Finanziert wurde der Kauf der Immobilie durch die Wilhelm-Hirte-Stiftung, die Millionen investierte. Auch die DCIG – und namentlich das Ehepaar Hermann – hat sich für die Finanzierung engagiert. Wir zogen in ein großes Reha-Haus. Innerhalb kürzester Zeit bekamen wir zusätzlich drei Kinderhäuser mit jeweils 7 Plätzen. Auch dies dank des Einsatzes von Professor Lehnhardt und großzügiger Sponsoren. Nun konnten wir pro Woche 21 Kinder mit je einem Elternteil aufnehmen.

Die enge Zusammenarbeit mit der HNO-Klinik der MHH war ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Professor Battmer beriet die Ingenieure des Zentrums in schwierigen Fällen und durch Professor Lenarz, dem Nachfolger von Professor Lehnardt, war die kontinuierliche Zusammenarbeit sowie die medizinische Betreuung der Kinder gesichert. Und wie ich schon betonte – nur das große Engagement der einzelnen Mitarbeiter ermöglichte es, die große Herausforderung zu bewältigen. Ich nannte es immer das goldene Team. Von den Hauswirtschaftskräften über die Sekretärin bis zu den Ingenieuren und Therapeuten – die Zusammenarbeit war trotz mancher Schwierigkeiten stets ausgezeichnet.

Redaktion: Wie wurde damals entschieden, ob ein Kind ein CI bekommt oder nicht?

Bodo Bertram: Das war gut organisiert. Wir baten vorab um die fachpädagogische Beurteilung der betreuenden Fördereinrichtung oder Schule. Das war ein wichtiger Beitrag, kannten doch die Kollegen am Heimatort die Kandidaten besser als wir. Auf diese Expertise durften und konnten wir nicht verzichten. Zunächst wurden die Kinder zur Voruntersuchung in die Klinik einbestellt; da ging es um die Eignung des Kindes aus allgemeinärztlicher sowie aus HNO-ärztlicher und audiologischer Sicht. Danach folgte das sogenannte Vorgespräch mit mir im Zentrum. Hier standen die Motivation, die Erwartungshaltung der Eltern, ihre Bereitschaft zur Mitarbeit sowie pädagogisch-psychologische Aspekte der CI-Versorgung im Mittelpunkt der Beratungen. Auch hatten die Eltern die Möglichkeit, vorab zu hospitieren. Diese Vorgespräche sind aus meiner Sicht nach wie vor von elementarer Bedeutung, greift doch eine Entscheidung für ein CI in das zukünftige Leben des Kindes nachhaltig ein. Das muss bedacht und intensiv diskutiert werden.

Für die Eltern war es wichtig, dass ihnen jemand zuhört. Ein großer Vorteil war dabei, dass das Zentrum nicht zur Klinik gehörte, sondern zur Kinderheilanstalt. Ich war unabhängig und habe den Eltern immer empfohlen, sich auch über gegenteilige Meinungen zu informieren. Nur auf der Basis umfassender Informationen konnten sie ihre Entscheidung treffen. Wenn ich feststellte, dass die Eltern große Zweifel hatten, also unsicher waren, informierte ich die Klinik: „Bitte noch keine OP, ich bestelle die Eltern in zwei, drei Monaten noch einmal ein.“ So hatten die Eltern ausreichend Zeit, ihre Entscheidung zu treffen. In einzelnen Fällen kamen sie auch dreimal. Und die Eltern konnten sich im Zentrum mit den anwesenden Müttern und Väter über deren Erfahrungen unterhalten, so sie den Wunsch hatten. Aus meiner Sicht ein wichtiger Beitrag für die Entscheidungsfindung der Eltern.

Redaktion: Und auf Ihr Veto wurde immer gehört?

Bodo Bertram: Lehnhardt hat das immer akzeptiert, auch wenn er sicher gern öfter operiert hätte. Wobei man wissen muss, dass die Indikation damals sehr streng war. Lehnhardt und ich hatten uns darauf geeinigt, dass eine Implantation nur in Frage kommt, wenn es beidseitig keine für den Spracherwerb nutzbaren Hörreste gibt; außerdem nur nach weiterer sechsmonatiger Hörgeräte-Versorgung. Wichtig war auch, dass die Kinder weiterhin durch die Frühförderer resp. Pädagogen angemessen gefördert wurden. Dem stimmten auch die Hörgeschädigtenpädagogen zu, die sich in zunehmender Zahl unserer Arbeit öffneten, bei uns hospitierten und vor Ort ebenfalls exzellente Arbeit leisteten.

Von den Kindern, die bei uns vorgestellt wurden, haben wir anfangs 70 Prozent abgelehnt; so bitter das manchmal war. Es gab etliche Tränen. Lehnhardt fürchtete jedoch, durch die Insertion noch vorhandene Hörreste zu zerstören. In besonders schwierigen Fällen, bei Kindern mit zusätzlichen Erschwernissen, haben wir einen Neuropädiater in die Beurteilung einbezogen. Hier hat uns insbesondere Herr Dr. Kuke aus Göttingen hilfreich zur Seite gestanden, gute Diagnosen gestellt, aber auch wertvolle Hinweise für unsere therapeutische Arbeit gegeben. Diese strenge Auswahl stärkte das Vertrauen bei den Schulen. Sie stellten fest: Die operieren ja nicht einfach, das CIC ist immer davor geschaltet. Ursprünglich sah unser Konzept sogar noch anders aus: Die CI-Kandidaten sollten vor einer möglichen Operation vier bis sechs Wochen bei uns aufgenommen und gefördert werden. Danach wollten wir entscheiden, ob eine Versorgung gerechtfertigt sein könnte. Aber da haben die Krankenkassen nicht mitgespielt.

Redaktion: Sie erwähnten schon, dass die Schulen gleichfalls mit eingebunden wurden?

Bodo Bertram: Ein Problem war, dass diese zunächst nicht so gern bereit waren, die Entscheidung mitzutragen. In einer Fachzeitschrift hieß es irgendwann in den 90ern: „Mit dem CI ist es ja alles schön und gut, aber die Entscheidung, ob implantiert wird, sollen mal Lehnhardt und Bertram treffen.“ – Ich habe dem klar widersprochen: „Wir brauchen Pädagogen, die sich eindeutig für die Förderung der CI-versorgten Kinder engagieren, da nur so unser gesetztes Ziel, Lautspracherwerb auf hörgestützter Basis, erreicht werden kann.“

Das CIC diente gleichsam als Brücke zwischen der Klinik und den Frühfördereinrichtungen und Schulen. Wir waren immer bemüht um Kontakt zu Erziehern, Kindergärtnern, Lehrern. Wir luden sie ein, bei der Anpassung der Sprachprozessoren, bei der logopädischen Arbeit, in der Hör-Sprachtherapie sowie in den Gruppenarbeiten, bei Motopädie und Ergotherapie zu hospitieren. Dadurch bekamen sie unmittelbaren Einblick in unsere Arbeit. In Einzelfällen bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen, Herrn Dipl. Päd. Kogge, in die Einrichtung gefahren. So konnten wir das Kind direkt erleben und mit den Pädagogen das weitere Vorgehen besprechen.

Reiste ein Kind nach einer Woche bei uns wieder ab, bekamen Mutter oder Vater einen Kurzbericht für den Kollegen am Heimatort mit. Darauf war vermerkt, was der Ingenieur am Sprachprozessor verändert hatte und wie der aktuelle Stand der Hör-Sprachentwicklung des Kindes zu bewerten ist – also wie eine Verlaufsdiagnostik. Wir erbaten aber auch Beurteilungen seitens der Fachkräfte des Heimatortes.

Redaktion: Sie waren also ständig im Austausch…

Bodo Bertram: Nach und nach entwickelte sich das CIC zu einem nationalen und internationalen Beratungszentrum in Sachen CI-Versorgung von Kindern.

Es kamen einzelne Kinder aus Russland und Tschechien, aus der Schweiz, aus Österreich sowie aus Luxemburg. Viele Fachleute aus dem In- und Ausland folgten unserer Einladung, sich unser Zentrum anzusehen. Auch immer mehr Pädagogen aus den Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen hospitierten. Besucher aus dem Ausland, die in der Klinik Prof. Lehnhardt sowie Professor Battmer besuchten, kamen auch ins Zentrum, um sich über das Konzept informieren zu lassen sowie zu hospitieren.

Redaktion: Ab 1993 entstanden auch in anderen deutschen Städten CI-Zentren. Inwieweit war Hannover ihr Vorbild?

Bodo Bertram: Natürlich kannten alle das CIC. Professor von Wedel aus Köln sagte mir damals: „Herr Bertram, wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wir übernehmen Ihr Konzept.“ Halberstadt und Professor Diller in Friedberg haben es ebenso gemacht. Prof. Diller hatte sich große Verdienste in der hörgerichteten Sprachförderung gehörloser Kinder erworben und Maßstäbe gesetzt. Professor Laszig wechselte von Hannover nach Freiburg und baute dort auch ein großartiges Zentrum auf. Natürlich wurde nicht alles 1:1 übernommen, das ist normal. Auch ein Reha-Konzept muss sich neuen Herausforderungen stellen. An anderen Orten wurden ambulante Angebote etabliert. Für die Förderung der Kinder finde ich diese jedoch nicht sehr befriedigend.

1996 habe ich die Gründung der ACIR angeregt, also der Arbeitsgemeinschaft Cochlea-Implantat-Rehabilitation. Motivation war, dass die neuen Zentren nicht in Konkurrenz zueinander treten sollten. Dem stimmten Kollegen wie Arno Vogel aus Schleswig, Anton Klingl aus Straubing in Bayern und Professor Diller aus Friedberg sofort zu. Bis 2008 hatte ich den Vorsitz inne.

Heute gehören etwa 20 Zentren dem ACIR an. Die Leiter der Zentren treffen sich jährlich einmal in einem der Zentren. Wir besprachen anliegende Fragen, und es wurden auch immer Referenten zu den unterschiedlichsten Themen eingeladen. Durch ihr Wirken haben die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft den hohen Standard der postoperativen (Re)Habilitation in Deutschland, insbesondere den hohen Standard bei den Kindern, befördert und erhalten.

Redaktion: Ich habe gehört, dass die Gehörlosenpädagogen anfangs fürchteten, die CI-Kinder würden zukünftig alle Regelschulen besuchen…

Bodo Bertram: Da habe ich schon damals gebremst: „Stopp! Nicht gleich alles auf die Regelschule!“ Der Anteil der Kinder, die mit dem CI die Lautsprache erwerben, ist sicherlich hoch. Ob alle von ihnen in der Regelschule bestehen, ist eine andere Frage. Das liegt auch daran, dass die Bedingungen für hörgeschädigte Kinder in vielen Regelkindergärten oder Regelschulen mit Blick auf die akustischen Verhältnisse, also durch hohe Lärmpegel, sehr ungünstig und die sprachlichen Ansprüche sehr hoch sind. Da bedarf es schon einer stabilen Persönlichkeit des Kindes, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden und zu bestehen. Gleiches gilt aber auch für das pädagogische Personal, das ja nicht aus Fachleuten für hörgeschädigte Kinder besteht.

Ein großer Teil der CI-Kinder schafft es sicherlich, in diesem Bereich zu bestehen. Für alle anderen würde ich Schwerhörigen-Kindergarten und Schwerhörigenschule empfehlen. An den Schulen wird nach normalem Lehrplan unterrichtet; man kann an einigen das Abitur ablegen. Ein späterer Übertritt in die Regelschule ist jederzeit möglich. Ich habe den Eltern oft geraten, nicht Hals über Kopf in die Regelschule zu stürzen. Wenn das Kind dort auf der Strecke bleibt, ist nichts gewonnen. Andererseits ist auch wichtig, dass die Pädagogen der Schwerhörigen-Schule wissen, worum es geht – also nicht nur um eine angenehme soziale Atmosphäre, sondern um intensive und natürliche Hör-Sprach-Erziehung.

Das gilt ebenso für Integrationskindergärten. Die dort tätigen Erzieher bedürfen der Unterstützung durch Hörgeschädigtenpädagogen. – Bei der Bewertung der postoperativen Nachsorge wird meines Erachtens ein grundsätzlicher Fehler begangen. Man schaut fast ausschließlich auf die ersten zwei, drei Jahre nach absolvierter (Re)Habilitation. Und man vergisst, dass alle Kinder in der Entwicklung ihrer Hör-Sprachfähigkeit weitere erhebliche Fortschritte machen – vorausgesetzt, es erfolgt weiterhin eine konsequente Förderung dieser Fähigkeiten sowohl im Elternhaus als auch im pädagogischen Umfeld. Auch schwache Performer beeindrucken über die Zeit mit guten Ergebnissen.

Redaktion: Das heißt, auch Integrationskindergärten müssen gezielt Sprachentwicklung fördern?

Bodo Bertram: Das ist ihre pädagogische Pflicht. Auch in Kindergärten habe ich oft Vorträge gehalten. Dort ist zum Beispiel wichtig, dass man die Sprachentwicklung von kleinen CI-Kindern nicht vorschnell mit der von anderen Gleichaltrigen vergleicht. Die Kinder brauchen oft viel mehr Zeit, und sie sind dort schwierigen akustischen Herausforderungen ausgesetzt. Hörgeschädigtenpädagogen beraten in der Regel die Erzieherinnen vor Ort. Die Kinder mit einem CI durchlaufen verspätet eine Hörgenese. Daher muss man größere Zeiträume für ihre sprachliche Entwicklung in Betracht ziehen. Die Eltern spielen durch ihr sprachliches Vorbild eine entscheidende Rolle. Der Alltag in der Familie bietet ungezählte Möglichkeiten. Viel lautsprachlicher Dialog mit dem Kind, weniger Spielen auf dem Handy – das muss die Devise sein.

Redaktion: Wie schätzen Sie die sozialen Herausforderungen ein, vor denen die CI-Kinder und ihre Familien stehen?

Bodo Bertram: Für die Familie bedeutet die Förderung ihres CI-versorgten Kindes eine stete Herausforderung sowie eine erhebliche Belastung durch die therapeutischen Maßnahmen und durch die Sorge um die zukünftige Entwicklung ihres Kindes. Auch die Kinder selbst stehen vor Herausforderungen. Hören mit dem CI bedeutet für sie eine enorme physische wie psychische Belastung. Die bilaterale Versorgung kann diese Belastung mildern.

Kinder mit einem CI brauchen auch hörgeschädigte Freunde. Und Eltern müssen das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken, ihnen aber auch vermitteln, dass da draußen manchmal ein kalter Wind weht. Ich sehe nicht, dass die Gesellschaft wirklich schon offen ist für behinderte Menschen. Mir fällt ein Mädchen ein, das damals mit fünf Monaten implantiert wurde. Es ist heute 13 und hat eine exzellente Lautsprachenkompetenz erworben. Sie erzählte von Problemen mit ihren Mitschülern in der Regelschule ob ihres Aussehens mit den beiden Sprachprozessoren. Ein wichtiges Problem für sie. Andererseits erzählte mir die Direktorin einer Schwerhörigen-Schule, dass bei ihr die CI-Kinder von den schwerhörigen Kindern mit Hörgeräten gemobbt werden. Ich verstehe das nicht. Wir wollten ein gemeinsames Projekt zu dieser Problematik durchführen. Leider konnten wir das nicht realisieren.

Eltern und Kinder müssen sich darauf einstellen, dass es zu solchen Problemen kommen kann. Die Elternarbeit und die gemeinsame und offene Besprechung von anliegenden Problemen waren uns im CIC stets wichtig. Jede Woche gab es eine Technik-Schulung und montags einen Gedankenaustausch zu unterschiedlichen Themen; zum Beispiel zur Problematik der Geschwister von CI-Kindern. Das CI-versorgte Kind verändert die Familie. Ich habe größten Respekt vor dem Engagement dieser Eltern, die eine große Last tragen. Die Therapeuten standen immer in einem engen Gedankenaustausch mit den anwesenden Müttern und Vätern. Auch Elternforen haben wir später durchgeführt.

Redaktion: Große Widerstände erfuhr die CI-Versorgung von Kindern auch aus den Reihen der Gehörlosen-Community?

Bodo Bertram: Gehörlose Eltern mit CI-versorgten Kindern müssen sich manchmal von einzelnen Mitgliedern dieser Community sagen lassen, sie hätten die Gehörlosengemeinschaft verraten. Andere Gehörlose meiden diese Familien sogar. Auch Freundschaften sind daran zerbrochen… – Ich denke, das Problem der Gehörlosen war und ist, dass sie sehr mangelhaft über das CI informiert sind.

Von Seiten der Gehörlosen kommt oft der Vorwurf: „Die Ärzte klären nicht richtig über das CI auf, die wollen nur Geld verdienen.“ Ich kann nur von meinen Erfahrungen in Hannover berichten. Dort sind auch Probleme nach CI-Versorgung seitens der Klinik immer offen dargelegt worden, beispielsweise bei den jährlichen CI-Kongressen. Und in der Voruntersuchung werden die Eltern durch die Klinik umfassend informiert.

Redaktion: Inwieweit können Sie die ablehnende Haltung von Gehörlosen nachvollziehen?

Bodo Bertram: Ich verstehe, dass die Gehörlosen um den Bestand ihrer Community bangen. – Vor zwei Jahren habe ich an einer Arbeitstagung des Deutschen Gehörlosenbundes teilgenommen. Schwerpunkt war die Forderung, dass die Entscheidung für ein CI frei sein muss, ohne dass Ärzte die Eltern dazu drängen. Anlass war die Klage eines Arztes gegen eine gehörlose Familie, die sich gegen eine Versorgung ihres Kindes entschieden hatte. Der Arzt hatte sie wegen Gefährdung des Kindeswohls verklagt.

Die Entscheidung für oder gegen eine CI-Versorgung ist sehr kompliziert für die Eltern. Inhalt der Beratung muss die Information der Eltern zu Möglichkeiten, Risiken und Grenzen der CI-Versorgung sein. Die Entscheidung für oder gegen eine CI-Versorgung obliegt allein den Eltern. Ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn sie sich gegen eine Implantation stellen, ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel.

Redaktion: Sie erwähnten schon den Hannoverschen CI-Kongress. Wie ist der eigentlich entstanden?

Bodo Bertram: Ich habe zu Beginn unserer Arbeit im CIC Professor Lehnardt darum gebeten, dass MHH und CIC jedes Jahr einen Kongress veranstalten sollten. Professor Lenarz hat diese Tradition fortgesetzt. Die Kongresse sind beeindruckende Informationsquellen hinsichtlich aktueller CI-Forschung. Es wird eine breite Auswahl aktueller Forschungsergebnisse vorgestellt. Es nehmen sowohl Fachleute unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche als auch Eltern und CI-Träger teil. Und die HNO-Klinik der MHH hat als eines der weltweit größten Zentren enormes Wissen zu bieten. Aber auch andere Zentren führen ähnliche und interessante Kongresse durch.

2002 hatten wir einen Kongress zum Thema „Zerstört das CI die Gehörlosenkultur?“. Auf dem wurden auch Probleme der Gehörlosen- Community bezüglich der CI-Versorgung von Kindern diskutiert. Auch Karin Kestner, eine sehr bekannte Gebärdensprachdolmetscherin, nahm daran teil. Wir hatten einen intensiven Disput.

Redaktion: Worum ging es da genau?

Bodo Bertram: Im Vorfeld griff sie Lehnhardt und mich auf ihrer Webseite ziemlich wüst an, klar unter der Gürtellinie. Da habe ich ihr geschrieben, dass diese Art der Auseinandersetzung über unterschiedliche Auffassungen inakzeptabel ist. Eine sachliche Diskussion über Differenzen sei allerdings anstrebenswert und sicher der Sache auch dienlich. Gleichwohl habe ich sie dann zu einer Hospitation in das CIC eingeladen, der sie gerne gefolgt ist. Sie bekam keinen Hospitationsplan wie sonst üblich, sondern es war ihr freigestellt, sich im Zentrum umzusehen und mit jedermann zu sprechen.

2019, zwei Monate vor ihrem Tod, habe ich Frau Kestner noch einmal auf dem Kongress des Deutschen Gehörlosenbundes getroffen. Wir haben sehr nett miteinander gesprochen. In der Diskussion beklagte sie, dass Ärzte mitunter zu wenig und zu kurz über das CI beraten. Da konnte ich ihr nur beipflichten. Wo das der Fall ist, ist es nicht zu akzeptieren. Für die Beratung der Eltern muss ausreichend Zeit zur Verfügung stehen.

Redaktion: Inwieweit würden Sie sagen, dass die Vorbehalte Gehörloser gegenüber dem CI nachgelassen haben?

Bodo Bertram: Mein Eindruck ist, dass es heute weniger gegen das Cochlea-Implantat geht. Der Gehörlosen-Community geht es vielmehr um den Erhalt resp. die Förderung der Gebärdensprache. Dieses Anliegen kann ich gut verstehen. Allerdings muss man aus meiner Sicht klar unterscheiden zwischen CI-versorgten Kindern gehörloser Eltern und CI-versorgten Kindern hörender Eltern. Für die gehörlosen Kinder gehörloser Eltern ist die CI-Versorgung eine gute Chance zur bilingualen Erziehung. Diese Kinder werden durch die pädagogischen Einrichtungen oder durch Großeltern lautsprachlich erzogen und die Eltern selbst werden natürlich weiterhin mit ihren Kindern gebärden. Da die Eltern als Gehörlose eine hohe Gebärdensprachkompetenz besitzen, ist dem nichts entgegenzustellen. Es kommt dem Lautspracherwerb einer zweisprachigen Familie gleich. Das bedeutet aber: ein Sprecher, eine Sprache. Die CI-versorgten Kinder gehörloser Eltern, die ich im CIC Hannover erlebt habe, verfügen jetzt über eine hohe Lautsprachkompetenz, haben ihr Abitur abgelegt und wollen studieren. Mit drei Familien stehe ich bis heute in Kontakt.

Ziel der CI-Versorgung ist der hörgestützte Lautspracherwerb, der gehörlosen Kindern neue, ungeahnte Bildungsmöglichkeiten eröffnet.  Nicht Ziel der CI-Versorgung ist hingegen der Erwerb der Gebärdensprache; das wäre widersinnig. Gleichwohl finde ich es völlig in Ordnung, wenn etwa junge Menschen mit CI nach Spracherwerb zusätzlich die Gebärdensprache erlernen möchten. Oder denken wir an mehrfachbehinderte CI-versorgte Kinder. Bei ihnen ist der Einsatz von Gebärden schon sinnvoll und hilfreich; so sind jedenfalls meine Erfahrungen.

Redaktion: Können Sie selbst gebärden?

Bodo Bertram: Ich kann die Gebärden, die ich als junger Pädagoge von den gehörlosen Kindern gelernt habe. Die DGS beherrsche ich leider nicht. Ich kann lormen und daktylieren, was mir bei der Therapie insbesondere bei Kindern mit zusätzlichen Erschwernissen dienlich war.

Wenn ich mich mit Gehörlosen unterhalte, finde ich es hilfreich, über Gebärden mit ihnen zu kommunizieren. Meine gehörlosen Gesprächspartner erkennen das auch an. Ich frage mich aber dennoch, wo die Grenzen dieser Sprache sind. Die liegen sicherlich nicht in Gestik und Mimik, mit denen sehr viel ausgedrückt wird. Aber wenn man an die Kulturtechniken Lesen und Schreiben denkt, dann haben viele Gehörlose doch erhebliche Schwierigkeiten; etwa den Sinngehalt von Texten zu verstehen. Und natürlich sind Gehörlose intelligente Menschen, die sich auch im beruflichen Leben ausgezeichnet bewähren. Viele Hörende bewerten sie aber aufgrund der eingeschränkten lautsprachlichen Fähigkeiten anders und laufen Gefahr, Gehörlose abwertend zu beurteilen.

Redaktion: Es ist eben wirklich eine andere Kultur…

Bodo Bertram: Das ist sie sicherlich. Die Gehörlosen-Community sollte wissen, dass niemand ihnen diese Kultur nehmen oder absprechen will. Gleichwohl, bei allem Für und Wider denke ich, dass das CI Gehörlose unabhängiger macht und völlig neue schulische sowie berufliche Möglichkeiten für gehörlose Kinder eröffnet. Und vielleicht wird sich die Community in Zukunft mehr und mehr dieser neuen Methode wohlwollend zuwenden und die damit verbundenen Chancen für ihre CI-versorgten Mitglieder erkennen.

Redaktion: Zu einem anderen Thema. – Implantationen bei Restgehör und einseitig ertaubten Patienten, bilaterale Versorgung, Hybrid-Implantate… – die Indikation für das CI hat sich mit der Zeit gewaltig erweitert. Eine wichtige frühe Indikationserweiterung war die CI-Versorgung für mehrfach behinderte Kinder…

Bodo Bertram: In der Tat, die Indikation hat sich über die Jahre erheblich verändert. Leistungsstärkere und kleinere Implantate, ein verbessertes Elektroden-Design, neue Sprachkodierungsstrategien, aussagekräftigere audiologische Messmethoden sowie neues operatives Vorgehen sind der Grund dafür. Und die gewonnen Erfahrungen können auf die CI-Versorgung der Kinder übertragen werden.

Die Versorgung mehrfachbehinderter hörgeschädigter Kinder hatte ich erstmals auf einem Kolloquium der Geers-Stiftung Anfang der 90er Jahre angesprochen. Bis dahin galt eine Mehrfachbehinderung als Kontraindikation für ein CI. Ich vertrat die Auffassung, dass mehrfach behinderte Kinder ebenso Anspruch auf eine Versorgung haben und dafür neue Konzepte entwickelt werden müssen. Ab Mitte der 90er haben wir auch solche Kinder versorgt. Das CIC Hannover und die HNO-Klinik haben zu dieser Thematik ein Kolloquium abgehalten. Wir luden Eltern betroffener Kinder, Fachpädagogen, Ärzte und Psychologen zu einem Gedankenaustausch ein. 1996 folgte eine Veröffentlichung zu diesem Treffen.

Bei der CI-Versorgung solcher Kinder muss zwischen relevanten und nicht relevanten zusätzlichen Erschwernissen unterschieden werden. Ein hörgeschädigtes Kind im Rollstuhl ohne zusätzliche kognitive Einschränkungen hat gute Chancen für eine lautsprachliche Entwicklung. Ein taubblindes Kind wird unter Umständen keine Lautsprachkompetenz erwerben – aber es kann hören, erlebt seine Umwelt in einer völlig neuen Dimension. Das Hören mit dem CI gibt solchen Kindern entscheidende Impulse für ihre weitere Entwicklung. Dabei müssen wir einen sehr langen Zeitraum im Auge haben.

Redaktion: Könnten Sie das illustrieren?

Bodo Bertram: Ich erinnere mich zum Beispiel an ein kleines Mädchen mit schwerer infantiler Cerebralparese. Nach einem ausführlichen Gespräch mit der Mutter haben wir uns für eine Implantation entschieden. Und der Erfolg gab uns Recht. Die Therapie mit ihr hat mir immer große Freude bereitet, und ich war tief beeindruckt, mit welcher Ausdauer und Intensität dieses Mädchen mitarbeitete. Natürlich kommt der Verdienst in erster Linie der Mutter zu, die sich mit großem Engagement für die weitere Entwicklung ihrer Tochter eingesetzt hat.

Das Mädchen hat im Laufe der Jahre ein recht gutes Sprachverstehen erlangt und konnte sich nunmehr mit einfachen Gebärden oder über einen Talker verständigen. Ich habe sehr schöne Videoaufnahmen mit ihr. Und ich habe mit einer Vielzahl solch beeindruckender Kinder gearbeitet. Allen Mitarbeitern des Zentrums, die therapeutischen Anteil an diesen Erfolgen haben, ist dafür zu danken.

Auf einem der Videos ist eine Überprüfung der Hörleistungen und des Sprachverstehens bei besagtem Mädchen zu sehen – drei Jahre nach der Implantation. Der Test erfolgte mit Close-Set- und Open-Set-Sprachmaterial. Das Mädchen konnte aufgrund seiner schweren Zusatzbehinderung nicht sprechen. Aber ich konnte hinter ihr stehen und zum Beispiel „Pferd“ oder „Baum“ und andere Worte sagen, und sie hat unter großen Mühen ein Pferd oder einen Baum gebärdet. Ich sagte „Schuh“, und sie hob mit großer Anstrengung und Stolz ihren Fuß auf den Tisch; sie hatte nämlich neue Schuhe bekommen. Wenn ich sie aufforderte: „Schließe bitte die Tür!“, stand sie auf und tat es. Das war sehr beeindruckend und zeigt, dass das CI diesem zusätzlich behinderten hörgeschädigten Kind einen neuen Weg in die hörende Welt eröffnet hat. Gute sprachliche Ergebnisse nach CI-Versorgung zeigten zum Beispiel auch Kinder mit Downsyndrom.

Redaktion: Wie haben Sie die mehrfach behinderten Kinder in Ihr Konzept integriert?

Bodo Bertram: Wenn es nötig war, haben wir in der Hör-Sprach-Erziehung zusätzliche Hilfsmittel eingesetzt. Die Eltern waren grundsätzlich mit dabei. In der motopädischen sowie ergotherapeutischen Therapie wurde sehr intensiv mit den Kindern gearbeitet und alle Tätigkeiten wurden lautsprachlich begleitet. Mittwochs kamen, finanziert über die Deutsche Kinderhilfe, Mitarbeiter eines Streichelzoos – mit einem Pony, einem Schaf und anderen Tieren. Die Kinder hatten große Freude an den Tieren. Und die Tiere stellen keine Ansprüche und akzeptieren die Kinder, wie sie sind. – Ein guter Anreiz für manche Kinder, sich lautsprachlich zu äußern.

Vor einigen Jahren hatte mich der norwegische Taubblindenlehrer-Verband zu einem Vortrag eingeladen. Wir diskutierten einen ganzen Tag, ob es sinnvoll ist, auch taubblinde Kinder mit einem CI zu versorgen. In Hannover haben wir eine Reihe CI-versorgter taubblinder Kinder betreut; da gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen dem CIC und den Kollegen vom Taubblinden-Zentrum Hannover. Der damalige Direktor der Einrichtung, Herr Bunk, war uns gegenüber sehr aufgeschlossen und zu einer Zusammenarbeit bereit, die Mitarbeiter ebenfalls. Vor drei Jahren gab es dort einen Kongress. Auch einige der Kinder von damals waren dabei. Ich muss bestätigen, die Entwicklungen, die ich mir gewünscht hätte, sind nicht bei allen eingetreten. Gleichwohl beurteilten die Kollegen deren Entwicklung durchaus positiv: Die Kinder sind durch das CI viel offener; sie können sich akustisch orientieren, manche verstehen Anweisungen. Das ist für hörgeschädigte, taubblinde Kinder, die häufig auch kognitive Einschränkungen aufweisen, ein beeindruckender Erfolg.

Redaktion: Lassen Sie uns noch einmal zu den Anfängen des CI zurückkehren. Sie haben lange Zeit eng mit Professor Lehnhardt zusammengearbeitet. Wie haben Sie ihn erlebt?

Bodo Bertram: Er war nicht immer einfach und stellte hohe Ansprüche an seine Mitarbeiter. Mir war er ein ausgezeichneter Lehrer, und ich war tief beeindruckt von seiner Arbeit als Arzt und Wissenschaftler.

Zu Beginn meiner Tätigkeit an der HNO-Klinik der MHH beauftragte er mich, gemeinsam mit Professor Battmer einen Artikel zur Anpassung der Sprachprozessoren bei Kindern zu verfassen. Ich sollte der Erstautor sein. Das war mir aber unangenehm, da Professor Battmer damals schon ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet Cochlear Implant war, ich ein blutiger Anfänger. Wir schrieben den Artikel, und ich hatte Herrn Battmer natürlich auf die erste Stelle gesetzt

Redaktion: Und dafür gab es Ärger?

Bodo Bertram: Wir mussten beide zu Lehnhardt, er war außer sich und machte Professor Battmer ziemlich laut Vorwürfe, weil er als Erstautor auf dem Artikel stand. Ich habe Lehnhardt dann erklärt, dass es allein mein Fehler und meine Schuld war, da ich diese Änderung zum Zweitautor selbst vorgenommen hatte und Herrn Battmer keinerlei Schuld traf, da er nichts von dieser Änderung wusste.

Anfangs habe ich Lehnhardt immer meine Artikel für Zeitschriften vorgelegt, die er wohlwollend aber auch mit großer Strenge durchsah. Wenn ich heute schreibe, steht Lehnhardt im Geiste hinter mir. Wir haben dann auch gemeinsam als Herausgeber zwei Fachbücher veröffentlicht, eines davon mit Professor Lenarz. Ein von mir geschriebenes Buch für Eltern und Therapeuten hat Lehnhardt durch seine Stiftung gemeinsam mit der Fa. Cochlear gesponsert.

So war er eben. Und er hatte auch eine sehr weiche und gütige Seite, die nur wenige kannten. Auf einer Gedenkveranstaltung nach seinem Tod habe ich darüber gesprochen. Ich sehe ihn noch, wie er bei meiner Verabschiedung vor mir stand; da hatte er Tränen in den Augen. Über sich selbst sagte er immer: „Ich bin kein Mediziner, ich bin Arzt.“ Eben ein Arzt alter Schule. – Frau Pitschmann, seine langjährige Sekretärin, war diejenige, die dem Chef hin und wieder auch Grenzen gesetzt hat; eine sehr liebenswürdige Dame, eine beeindruckende Sekretärin, die Lehnhardt immer zur Seite stand.

Redaktion: Er war ja Sohn eines Pfarrers…

Bodo Bertram: Von seinem Vater hat er mir öfter erzählt. Er hat ihn sehr verehrt. Auch bei seinen Studenten war Ernst Lehnhardt sehr anerkannt. Und mir hat er sogar mal das Du angeboten (lacht). Ich habe ihm ein einziges Mal ein Fax geschickt mit „Lieber Ernst…“. Danach dachte ich, was mag er jetzt von Dir denken!? Mir ist dieses Du nie über die Lippen gekommen, ob seiner Persönlichkeit und seiner Leistungen. Es passte nicht. Auch nach meiner Zeit in Hannover habe ich ihn dort einmal pro Jahr getroffen.

Redaktion: Ein entscheidender Schritt für den Beginn der CI-Versorgung in Deutschland war 1984 die Reise von Ernst Lehnhardt und Rolf-Dieter Battmer zu Graeme Clark nach Melbourne sowie die anschließende Entscheidung für das Nucleus Implantat. Was haben Sie darüber erfahren?

Bodo Bertram: Lehnhardt und Battmer waren ja zuvor gemeinsam mit der Technischen Universität Hannover und einer Institution in Göttingen mit der Entwicklung eines eigenen Implantats befasst. Gleichzeitig gab es weltweit andere Forschungsteams, die an Implantat-Lösungen arbeiteten, sowohl in den USA als auch hier in Europa.

In Deutschland hatten Zöllner und Keidel bereits in den 60er Jahren Vorschläge erarbeitet, wie ein Cochlea Implantat aufgebaut sein müsste: mehrkanalig, intracochleär, also in der Scala Tympani; und ein Prozessor sollte die Lautsprache in elektrische Muster umwandeln. Das waren deren Pionierleistungen zur CI-Entwicklung, wie Lehnhardt immer wieder betonte. Er hat deren wissenschaftliche Leistungen nachdrücklich gewürdigt. Und er fand es traurig, dass beide Wissenschaftler später ob ihres wissenschaftlichen Beitrages kaum noch erwähnt wurden.

Lehnhardt gab die Entwicklung seines eigenen CI auf, als die Australier ihm ihr von Graeme Clark entwickeltes Cochlear Implantat vorstellten. Anfangs war er skeptisch. Lehnhardt sagte mir mal: „Bei Australien dachte ich zunächst an Koala-Bären und Kängurus, aber nicht an ein Cochlea Implantat.“

Redaktion: Er hat sich jedoch entschieden, mit dem Implantat von Graeme Clark weiterzumachen?

Bodo Bertram: Letztlich entschieden hat das Battmer. Das hat Lehnhardt bei dessen Verabschiedung auch betont, als Battmer damals von Hannover nach Berlin wechselte. Professor Battmer ist ja Elektroingenieur. Er erkannte, dass dieses Implantat für Hannover von Bedeutung ist. Und er hat über die Jahre wesentliche Forschungsbeiträge zur Weiterentwicklung von Implantaten geleistet.

Redaktion: Sie sind Graeme Clark mehrmals begegnet?

Bodo Bertram: Ich bin ihm einmal in Melbourne und einmal im Sydney begegnet. Er ist eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet. Und er ist ein äußerst sympathischer, sehr bescheidener und liebenswürdiger Mann. Er hat mir damals auch den ersten Sprachprozessor gezeigt, ein ziemlich großes Ding. In Brisbane konnte ich das „Mouse House“, ein kleines CI-Zentrum, besichtigen. Auf einem internationalen Kongress habe ich ihn nochmals getroffen und er schenkte mir ein von ihm signiertes Buch.

Redaktion: Professor Clark muss ein besonderes Verhältnis zu seinen Patienten gehabt haben. Im Interview sagte er, dass sein erster CI-Patient Rod Saunders für ihn mehr wie ein Mitarbeiter war…

Bodo Bertram: Ohne Frage, bei seinem Engagement und dem Professor Clark entgegengebrachten Vertrauen… – Ein solches Vertrauensverhältnis gab es bei uns damals auch. Das betraf nicht nur den Umgang von Lehnhardt mit seinen Patienten, sondern insbesondere auch das Verhältnis von Professor Battmer zu seinen Patienten. Sein Umgang mit ihnen war stets sehr herzlich und zugewandt. Mit Battmer habe ich ja über 30 Jahre sehr kollegial und freundschaftlich zusammengearbeitet. Auch bis vor kurzem noch in Berlin und Potsdam. Bezüglich des Verhältnisses zu den Patienten waren wir stets gleicher Meinung.

Redaktion: Noch ein letzter Punkt. Im CIC betreuten Sie damals ausschließlich Kinder. Wie sah eigentlich die CI-Nachsorge für die Erwachsenen aus?

Bodo Bertram: Die Nachsorge für die Erwachsenen ist ja auch heute noch ein großes Thema. In den ersten Jahren wurden ausschließlich Erwachsene implantiert, sie mussten damals beidseits völlig taub sein. Vor der OP besuchten sie einen vierwöchigen Kurs zum Lippenabsehen. Nach der OP gab es ein vierzehntägiges Training an der HNO-Klinik der MHH, und dann wurden sie vierteljährlich, danach halbjährlich erneut in die Klinik einbestellt – für die Anpassung des Sprachprozessors.

Weitere Angebote, wie es sie später für die Kinder gab, gab es für Erwachsene zunächst nicht. Das haben sie immer sehr bedauert. Die DCIG hat sich intensiv für die Verbesserung der Nachsorge von Erwachsenen engagiert, ebenso die Arbeitsgemeinschaft Cochlear Implant Re(Ha)bilitation (ACIR). Inzwischen hat sich die Lage wesentlich verbessert, weil viele der Reha-Zentren, die Kinder postoperativ betreuen, auch Erwachsene aufnehmen – stationär oder ambulant. Momentan therapiere ich noch zwei Tage in der Woche vorrangig erwachsene CI-Patienten im Hörtherapie-Zentrum in Potsdam. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie schnell die meisten der Patienten innerhalb kurzer Zeit ein gutes Sprachverstehen entwickeln. Dieser Umstand ist auch auf die sehr guten Implantate der Hersteller zurückzuführen.

Meine Empfehlung war damals, in jedem Bundesland Schwerpunkt-Kliniken zu schaffen, die sich auf das Cochlea-Implantat konzentrieren und eine entsprechende postoperative Re(Ha)bilitation vorhalten. Gekommen ist es dazu nicht. Heute operieren viele kleine Kliniken; und das finde ich nicht so gut, da entsprechende Erfahrungen fehlen. Inzwischen operieren wohl ca. 125 Kliniken deutschlandweit. Die Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals- Chirurgie e.V. hat Leitlinien für die Cochlea Implantat Versorgung erarbeitet und aktualisiert. Daran waren auch andere Fachgesellschaften und unterschiedliche Organisationen, die sich für die Interessen Hörgeschädigter einsetzen, beteiligt. An diesen hohen Standards der Leitlinien sollten sich Kliniken, die mit der CI-Versorgung beginnen wollen, orientieren, um eine qualifizierte Versorgung von Patienten zu garantieren.

Redaktion: Herr Dr. Bertram, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch!

Der Artikel erschien ursprünglich in der Fachzeitschrift „Hörgeschädigten-Pädagogik“, Ausgabe 2-2022.