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09.09.2021

Große Reserven bei der CI-Versorgung von Erwachsenen

Im Gespräch mit Prof. Prof. h.c. Dr. med. Thomas Lenarz über den ersten internationalen Consensus zur Versorgung mit Cochlea-Implantaten (CI) bei Erwachsenen

Ende August wurde es vorgestellt: Das Konsenspapier, das erstmals weltweite Richtwerte für die Versorgung von erwachsenen Schwerhörigen mit Cochlea-Implantanten (CI) formuliert. Das Dokument, das vom Consumer and Professional Advocacy Committee (CAPAC) mitgestaltet wurde, nennt Mindestanforderungen, an denen sich die CI-Versorgung fortan überall auf der Welt orientieren soll. Die Empfehlungen sind das Resultat eines gründlichen Verständigungsprozesses zwischen international renommierten Vertretern der HNO-Medizin und anderer an der Versorgung beteiligter Berufe sowie Vertretern der Selbsthilfe. Einer der beiden deutschen Repräsentanten im CAPAC ist Prof. Prof. h.c. Dr. med. Thomas Lenarz, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Leiter des Deutschen Hörzentrums. In nachfolgendem Interview erklärte er uns, warum die neuen Richtwerte auch hierzulande wichtig sind.

Redaktion: Herr Professor Lenarz, mit dem jetzt vorgestellten Konsenspapier wird erstmals ein globaler Mindeststandard für die CI-Versorgung erwachsener Patienten aufgestellt. Es gibt grundlegende Empfehlungen, die jedem Land der Welt eine Orientierung bieten. Wie ist dieses Papier entstanden und mit welchem Ziel?

Prof. Lenarz: Ziel war es, einen gemeinsamen Konsens darüber herzustellen, was der Standard of Care, also der Versorgungsstandard, hinsichtlich der CI-Versorgung von schwerhörigen Erwachsenen sein sollte. Am Konsensusprozess waren internationale HNO- und Audiologie-Experten sowie Vertreter der Fachkreise und Patientenorganisationen beteiligt. Gesteuert wurde der Prozess durch das „Delphi Steering Committee“. Dieses Komitee wählte die Experten aus, welche dann gemeinsam die einzelnen Punkte des Standards diskutierten und sich auf Formulierungen einigten. Dadurch wurde sichergestellt, dass es sich bei den Richtwerten nicht um einzelne Meinungen handelt, dass sie zum Beispiel nicht auf nationalen Besonderheiten basieren. Es geht um einen globalen Standard.

Redaktion: Welchen Stellenwert hat das Konsenspapier für Deutschland mit seinem hochentwickelten Gesundheitssystem? Inwieweit braucht man hierzulande überhaupt so eine Orientierungshilfe?

Prof. Lenarz: Sicherlich, auf der einen Seite hat Deutschland – verglichen mit anderen Ländern – seit Jahrzehnten eine Vorreiterrolle. Deutschland verfügt über hervorragende Zentren für die Cochlea-Implantation, die sich sowohl durch die hohe Qualität des gesamten Versorgungsprozesses als auch durch sehr gute Ergebnisse auszeichnen, und die auch international führend sind. Hier arbeiten Experten verschiedenster Bereiche gemeinsam an der Diagnostik und an der Versorgung der schwerhörigen Patienten mit, um das Maximum zu erreichen. Deutschland war und ist zudem wesentlich an der Entwicklung neuer Möglichkeiten der Versorgung und an der Erweiterung der Kriterien für die CI-Indikation beteiligt. Innovationen werden hierzulande erprobt und auf Basis der gewonnenen klinischen Ergebnisse weiter vorangetrieben.

Doch andererseits gibt es auch bei uns klare Reserven. Von denjenigen Patienten, die von den Innovationen in Hör-Diagnostik und Therapie profitieren könnten, haben wir bislang leider nur einen kleinen Prozentsatz versorgt. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem, was für viele Patienten potentiell möglich wäre, und dem, was bislang umgesetzt wurde. Diese Diskrepanz zeigt, dass auch wir ein Problem damit haben, einen Standard in der Behandlung umzusetzen und alle Betroffenen gut zu versorgen.

Redaktion: Welche Schritte sollten unternommen werden, um diesem Problem wirkungsvoll zu begegnen?

Prof. Lenarz: Um die allgemeine Akzeptanz für die CI-Versorgung zu heben und damit auch den Standard of Care zu implementieren, muss zuerst einmal die Aufmerksamkeit für das Thema Schwerhörigkeit erhöht werden, so dass es der großen Häufigkeit und Bedeutung von Schwerhörigkeit entspricht. Das Thema muss noch viel stärker als ein wesentliches gesellschaftliches Gesundheitsproblem wahrgenommen werden, eines, das innerhalb des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle spielt.

Hochgradige Schwerhörigkeit ist keine Nische innerhalb der Behinderungen, welche man ggf. vernachlässigen kann. Die betroffene Patientengruppe ist nicht klein. Wenn wir die heutigen Indikationskriterien für ein Cochlea-Implantat zugrunde legen, dann sind das allein in Deutschland ca. eine Million Betroffene. Implantiert sind jedoch nur fünf bis sechs Prozent der erwachsenen Kandidaten. Das heißt, die besagte Diskrepanz zwischen dem, was möglich und mit vertretbaren Risiken umsetzbar ist, und andererseits dem, was bis heute erreicht wurde, ist riesig.

Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Folgen von Schwerhörigkeit noch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rufen.

Redaktion: Welche Folgen sehen Sie da?

Prof. Lenarz: Es geht eben nicht nur darum, dass man zu Hause den Fernseher lauter stellen und häufiger nachfragen muss. Viel gravierender ist doch, dass Schwerhörigkeit einsam macht, dass sie verhindert, bestimmte Kontakte überhaupt noch zu suchen, dass ich mich zurückziehe, meinen Lebensradius und damit auch meine Lebensqualität schrittweise immer mehr einschränke. Und dass sich mit der zunehmenden Isolation auch der geistige Anspruch reduziert. Bestimmten Herausforderungen setze ich mich gar nicht mehr aus.

Jede Schwerhörigkeit be- bzw. verhindert effektive Kommunikation. Sie hat Auswirkungen in Schule und Beruf. Und sie hat massive Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Schwerhörigkeit ist eben der wichtigste Einzelfaktor bei der Entstehung bzw. Verschlimmerung von Demenz.

Dies alles noch stärker ins Bewusstsein zu rücken, würde entscheidend dazu beitragen, dass tatsächlich allen Menschen mit CI-Indikation die Möglichkeiten der Behandlung angeboten werden, dass sie um Chancen und Risiken wissen, und dass weit mehr Betroffene von dieser Behandlung profitieren können.

Redaktion: Inwieweit kann die Gemeinschaft der Schwerhörigen selbst zu dieser besseren Wahrnehmung beitragen?

Prof. Lenarz: Um das Thema Schwerhörigkeit noch mehr in die Gesellschaft zu tragen, ist diese Gemeinschaft sozusagen die wichtigste Lobby-Gruppe. In ihr gibt es ganz viele positive Beispiele. Diese Menschen haben Erfahrungen mit einem bestimmten Weg der Diagnostik und der Behandlung. Viele können berichten, welche Vorteile ihnen die Versorgung mit einem Hörimplantat gebracht hat. Das können sie auch nach außen tragen.

Die Vermittlung des Themas geht allerdings mit einer großen Herausforderung einher. Schwerhörig zu sein bedeutet eben auch, in der eigenen Kommunikation behindert zu sein. Wie vermittelt man das, so dass andere, die diese Behinderung nicht haben, es als ein wesentliches Problem annehmen und sich zudem vergegenwärtigen, dass sie zukünftig selbst von Schwerhörigkeit betroffen sein könnten?

Wir brauchen eine erhöhte Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, insbesondere auch bei den Entscheidungsträgern. Ab einem bestimmten Lebensalter ist Schwerhörigkeit überhaupt die häufigste Behinderung. Das zu vermitteln, ist eine wesentliche Aufgabe – für die Hörgeschädigten und für die Experten gemeinsam.

Und das Positive, was wir unbedingt auch vermitteln müssen, ist die Tatsache, dass wir Schwerhörigkeit behandeln können.

Redaktion: Und diejenigen Schwerhörigen, die noch nicht optimal versorgt sind? Wie könnten sie noch besser unterstützt werden? Wer muss wissen, was man für sie tun kann?

Prof. Lenarz: Jeder schwerhörige Patient ist mit seiner Schwerhörigkeit zunächst einmal völlig allein. Er braucht Ansprechpartner, die ihn unterstützen, und die ihm Orientierung geben. Er muss wissen, dass es keinen Grund gibt, die Schwerhörigkeit zu verstecken, dass es ganz vielen Menschen genauso geht wie ihm. Und er muss wissen, dass er etwas tun kann, dass es effektive Therapien gibt: „Die Versorgung ist sicher. Sie kann auch bei Ihnen eingesetzt werden. Und die zu erwartenden Ergebnisse sind so, dass Sie besser hören werden, als Sie jetzt hören.“

Damit er das erfährt, sind zum einen verschiedene Profis erforderlich. Sie müssen dem Patienten aufzeigen, welche Ursachen und welche Auswirkungen die Schwerhörigkeit hat. Sie müssen ihn über die diagnostischen und die therapeutischen Möglichkeiten informieren. Aber auch Angehörige sowie andere hörgeschädigte Menschen spielen hier eine wichtige Rolle.

Redaktion: An welchem Punkt müsste die Arbeit im Gesundheitswesen einsetzen?

Prof. Lenarz: Die Information durch die Profis sollte bereits beim Hausarzt beginnen. Daneben sind die HNO-Ärzte, die Audiologen und die Hörakustiker potentielle primäre Ansprechpartner. Sie alle haben die Aufgabe, den Schwerhörigen so zu informieren, dass er sich nicht zurückzieht. Er soll keine Angst vor der Diagnose haben: „Ich bin schwerhörig.“ Er soll vielmehr sagen: „Ok, ich gehe das an. Ich sehe, dass andere auch verschiedene Hörhilfen nutzen, und dass sie damit besser aufgestellt sind. Es ist offensichtlich besser, dem Problem aktiv zu begegnen, als ihm auszuweichen.“

Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass die verschiedenen Ansprechpartner selbst gut informiert sind. Sie müssen die Möglichkeiten, die es gibt, kennen. Und sie müssen den Patienten in die richtige Richtung lenken – zum passenden Experten. Hier in Deutschland haben wir eine große Zahl an HNO-Ärzten, an Hörakustikern, an Kliniken. Wir haben etablierte Zentren für die Behandlung von Schwerhörigkeit. Aber um die im Konsenspapier formulierten Versorgungsstandard für die Therapie mit einem Cochlea Implantat zu erreichen, müssen alle Expertengruppen in einem gemeinsamen Netzwerk zusammenarbeiten.

Redaktion: Wie muss dieses Netzwerk beschaffen sein?

Prof. Lenarz: Dieses Netzwerk ist zum einen der primäre Anlaufpunkt. – Hierhin geht der Patient, um sich zu informieren und eine Lösung für sein Problem zu finden.

Wichtig ist andererseits aber auch, dass der Patient innerhalb des Netzwerks Zugang zu den verschiedenen Ebenen der Expertise erhält. Jede Expertengruppe hat ihre Aufgaben. Der Hausarzt ist vielleicht derjenige, bei dem das Thema Schwerhörigkeit erstmals angesprochen wird. Der HNO-Arzt kann die wichtigsten Formen von Schwerhörigkeit unterscheiden und ausgehend davon auf eine weitere Diagnostik und Therapie orientieren. Und der Hörakustiker steht nicht nur für eine bestimmte Form der Therapie. Er besitzt auch die technische Expertise, um Menschen, die mit einem Cochlea-Implantat versorgt wurden, weiter zur Seite zu stehen. Er kann die Technik überprüfen, Ersatzteile oder Zubehör zur Verfügung stellen, sich mit um die Nachsorge kümmern.

Alle Ebenen müssen miteinander verschränkt sein. Und das System muss in alle Richtungen durchlässig sein. Der Patient muss zum Beispiel vom HNO-Arzt in die HNO-Klinik bzw. in das Zentrum gelangen, in denen seine Schwerhörigkeit behandelt werden kann. Und ebenso muss es den Weg in die andere Richtung geben. Um die erfolgreiche Behandlung und die kontinuierliche Nachsorge des Patienten sicherzustellen, müssen alle Expertengruppen zusammenarbeiten.

Redaktion: Abschließend bitte noch ein Fazit: Was muss in Deutschland erreicht werden, um den Versorgungsstandard umzusetzen?

Prof. Lenarz: Ziel muss es einerseits sein, dass die Entscheidungsträger, die Politik, die Krankenkassen motiviert werden, dem Thema angemessen zu begegnen, auch die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und überhaupt innerhalb der Gesellschaft für gute Bedingungen für Hörgeschädigte zu sorgen. Und das zweite Ziel muss die Versorgung in besagtem Netzwerk sein, in dem alle Expertisen ineinandergreifen, und das in jede Richtung durchlässig ist. Und zum Dritten sind die Betroffenen auch selbst gefordert. Sie müssen die Möglichkeiten des Cochlea-Implantats kennen. Und sie sollten ggf. auch die Kandidaten in ihrem Entscheidungsprozess aktiv unterstützen.

Redaktion: Dann wünschen wir uns, dass wir auf dem Weg zu diesen Zielen zügig vorankommen. Herr Professor, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch.

Quelle: Cochlear Ltd.